Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
gewesen. Doms Mutter hatte nur vielsagend gelächelt – ein Blick, der Kristin gleich in ihre Schranken gewiesen hatte.
Habgierige Mittelschichtgöre , hatte der Blick gesagt. Eine habgierige Mittelschichtgöre mit Gesamtschulabschluss, einem Diplom in Kunstgeschichte von einer Durchschnittsuniversität und beruflichen Ambitionen, die nie zu etwas führen würden, was für ihren Sohn interessant sein könnte. Und vielleicht hatte Mama ja richtiggelegen, dachte Kristin, während sie auf ihre Uhr sah.
Ein Mädchen, das eine halbe Stunde an der Bar wartete, mochte vielleicht mit einem Typen verabredet sein, dem etwas Dringendes dazwischengekommen war; ein Mädchen, das länger
als eine halbe Stunde allein wartete, könnte sich ebenso gut VERSETZT auf die Stirn schreiben. Einige der anderen Gäste begannen ihr auch schon Blicke zuzuwerfen, und sie konnte sich die Bemerkungen vorstellen, die sie einander zuflüsterten – eher boshaft als mitfühlend. Mit einem nicht sehr damenhaften, hörbaren Schluck kippte sie den Rest ihres Drinks herunter, stellte ihr Glas auf die Theke und schenkte dem Barkeeper ein betörendes Lächeln, als sie in Richtung Treppe stakste.
Sie war nicht hergekommen – und sie hatte auch nicht ein halbes Monatsgehalt für dieses Kleid hingelegt -, nur um den ganzen Abend blöde herumzustehen.Wenn Dom nicht den Anstand besaß, sich blicken zu lassen, dann würde sie sich eben ohne ihn amüsieren.
Und doch musste sie sich widerwillig eingestehen, dass sie sich ein wenig Sorgen machte, als sie ganz vorsichtig auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen die steile Treppe zum Club hinuntertrippelte. Bei all seinen Fehlern war Dominic doch immer nett zu ihr gewesen, und in letzter Zeit hatte sie so manches mitbekommen, was sie befürchten ließ, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckte. Geflüsterte Wortwechsel in dunklen Winkeln von Pubs, mit Männern, deren Ruf ihr Angst machte; und es gab noch andere Anzeichen: Er, der gut aussehende Spross aus reichem Hause mit seinem Strahlemann-Look, wirkte neuerdings merklich angegriffen, und gestern war ihr aufgefallen, dass seine Hände zitterten, was er zu kaschieren versucht hatte, indem er sich eine Zigarette nach der anderen anzündete.
Und dann war da diese Sache mit Harry, die sie zutiefst beunruhigte. Sie wollte nicht in irgendwelche zwielichtigen Geschichten hineingezogen werden, aber andererseits könnte es vielleicht genau die Starthilfe sein, die sie brauchte – und danach könnte sie Dominic Scott getrost in die Wüste schicken.
Andere Männer würden zu schätzen wissen, was sie zu bieten hatte. Männer, die etwas aus ihrem Leben machten – Männer,
die keinen Ballast mit sich herumschleppten wie Dominic und deren Familien sie nicht wegen ihrer Herkunft verachteten.
Vor ihr, in unwirkliches blaues Licht getaucht, wiegten sich dicht gedrängte Leiber wie Seeanemonen in einer Unterwasserströmung. Die stampfenden House-Beats waren hypnotisierend, versetzten jede Faser ihres Körpers in Schwingung, und sie wollte nur noch tanzen. Ein groß gewachsener Mann mit espressofarbener Haut lächelte sie über die Tanzfläche hinweg an. Bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, tauchte sie in das Gewoge ein und kam ihm auf halbem Weg entgegen.
3
Notting Hill Gate ist ein Ort des Aberglaubens, der alle rationalen Regeln und Erklärungen zu sprengen scheint.Auf der Portobello Road hat man den Eindruck, immer unwirklicher zu werden; man verliert mehr und mehr das Gefühl für die eigenen Proportionen inmitten der Scharen von Menschen, die allesamt so viel ärmer oder reicher, verrückter oder konventioneller scheinen als man selbst.
Jonathan Raban, Soft City
»Mr. Walters?« Kincaid bemerkte seinen Fauxpas, kaum dass er den Namen ausgesprochen hatte. »Ern?«, korrigierte er sich. »Ist alles in Ordnung?« Er hatte sich nie so recht daran gewöhnen können, Gemmas Vater beim Vornamen anzureden.
»Gemma auch da?«, fragte Ern Walters so knapp, dass es fast wie eine Feststellung klang. Er war klein und drahtig und wie gewöhnlich mit Tweedjacke und Krawatte bekleidet. Eine zerknautschte Schiebermütze bedeckte die spärlichen Reste seines Haupthaars.
»Nein – nein, sie ist zufällig gerade nicht im Haus.Aber kommen Sie doch bitte rein.« Kincaids Besorgnis wuchs, während er die Tür ganz öffnete und Ern bedeutete einzutreten. Gemmas Eltern hatten sie erst einmal besucht, seit sie in das Haus in Notting Hill gezogen waren – zu Tobys
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