Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
die Portobello Road ging. Von der Straße drang kein Geräusch herauf. Die Läden waren alle geschlossen, und selbst in den Pubs war es ruhig.
Zu schade, dachte Melody Talbot, dass sie nicht auf Doug Cullen stand, diesen kleinen Streber, denn sie ahnte, dass sie in ihm vielleicht jemanden hätte finden können, der genauso einsam war wie sie.
Gemma fuhr die Strecke nach Leyton wie ferngesteuert. Es war ein gutes Stück weiter als damals, als sie noch in der Garagenwohnung ihrer Freundin Hazel in Islington gewohnt hatte, und es gab keine einfache Route. Sie kurvte durch ruhige Nebenstraßen, erst in nördlicher, dann in östlicher Richtung, durch die Außenbezirke von Willesden, Hampstead und schließlich Camden Town, und die ganze Zeit kreisten ihre Gedanken um die Wahrheit, die sie hartnäckig zu leugnen versuchte: Nicht meine Mutter – mein Gott, nicht meine Mutter. Es war einfach nicht möglich.
Kincaid hatte sie natürlich davon abzuhalten versucht, ins Krankenhaus zu fahren; sie könne doch heute Nacht ohnehin nichts mehr tun, hatte er gesagt, und ihr Vater wolle auch nicht, dass sie ihre Mutter besuchte.
Wie typisch für ihrenVater, lieber durch halb London zu kurven, statt sie einfach anzurufen. Er hatte sie mit der Nachricht konfrontieren wollen, vermutete sie; ihr zu verstehen geben wollen, dass das, was ihrer Mutter zugestoßen war, in seinen Augen irgendwie ihre Schuld war.
Das hatte sie verletzt, aber es war nicht ihr kurzer Wutausbruch über die Starrköpfigkeit ihres Vaters, der sie veranlasst hatte, sich sofort ins Auto zu setzen und quer durch London zu rasen, sondern schiere Panik – und ein Anflug von schlechtem Gewissen. Wie konnte es sein, dass ihre Mutter krank war und sie nichts davon gewusst hatte?
Sie hatte sie erst vor ein paar Wochen gesehen – oder war es schon länger her? Die Zeit verging wie im Flug, die Arbeit und die Kinder hielten sie in Atem, und wenn sie ihre Eltern dann einmal besuchte, sah sie sich mit der Atmosphäre schweigender Missbilligung konfrontiert, die ihr Vater verbreitete. Aber das waren alles Ausreden, die ihr in diesem Moment fadenscheinig und egoistisch vorkamen.
Leyton glitt vorüber, die Straßen ihrer Kindheit, so vertraut, dass es ihr einen Stich ins Herz gab, und dann fuhr sie auf das Gelände der Whipps-Cross-Universitätsklinik. Die Silhouetten der wuchtigen spätviktorianischen Gebäude zeichneten sich vor einem Himmel ab, der im Schein der allgegenwärtigen Großstadtlichter rötlich glühte – ein Bild, das irgendwie zu ihrer Stimmung zu passen schien.
Hier war sie zur Welt gekommen, genau wie ihr Sohn Toby, ihre Schwester und die Kinder ihrer Schwester, ganz zu schweigen von so bekannten Persönlichkeiten wie David Beckham oder dem Fernsehmoderator Jonathan Ross. Aber auch das waren nur unbedeutende Fußnoten angesichts all der Geburten und Sterbefälle, die dieses Krankenhaus in rund hundert Jahren erlebt hatte.
Gemma kannte sich in dem Komplex gut aus und hatte daher keine Mühe, die Station zu finden, auf der ihre Mutter lag. Dort traf sie auch ihre Schwester an. Cyn hatte sich im Wartebereich auf drei Stühlen ausgestreckt und schlief fest. Ihr rotgoldenes Haar wallte herab wie bei einer ertrinkenden Ophelia, ein Stück braun gebrannte Taille war zu sehen, und knallpink lackierte Zehennägel lugten keck unter dem Saum ihrer Jeans hervor.Typisch Cyn – immer perfekt gestylt, auch unter den unerfreulichsten Umständen, dachte Gemma verärgert, aber dann ließ ihre Schwester ein leises Schnarchen hören, und Gemma seufzte. Cyn war eben Cyn, aber sie hätte doch wenigstens anrufen können. Wahrscheinlich hatte sie sich in der Rolle der
guten Schwester einfach zu wohl gefühlt – oder vielleicht, so Gemmas etwas gnädigereVermutung, hatte sie es in ihrer Sorge schlicht vergessen.
Sie hatte ihre Schwester eigentlich wecken wollen, aber dann beschloss sie spontan, Dornröschen weiterschlafen zu lassen und stattdessen mit der Stationsschwester zu sprechen.
Ihr Puls beschleunigte sich, als sie die eigentliche Station betrat. Der Flur war hell erleuchtet, aber die tiefe nächtliche Stille war umso bedrückender, und sie löste in Gemma ein Gefühl aus, das sie immer zu solchen Zeiten an einem Ort wie diesem beschlich – das Gefühl, dass das Leben an einem seidenen Faden hing.
Doch der Stationspfleger, ein etwas pummeliger Pakistani, war ganz aufgeräumt und hatte kein Problem damit, ein Auge zuzudrücken und sie zu ihrer Mutter zu
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