Wen liebst du, wenn ich tot bin?
grelle Tag flutet ins Zimmer und wir schließen die Augen.
»Fußballschuhe«, sagt er kaum hörbar.
»Ich frage mich nur, was er dort draußen zu suchen hatte. Wie hat er diese Leute kennengelernt? Das ist doch eine berechtigte Frage.«
Mum listet eine ganze Reihe solcher berechtigter Fragen auf. Unwillkürlich muss ich an eine Löwin denken, die eines Morgens in der Savanne die Augen aufschlägt und feststellt, dass sie reden kann.
»Wirklich ein verdammt guter Zeitpunkt, um wieder aufzutauchen und Anteil zu nehmen. Wenn du ein paar Wochen früher auf die Idee gekommen wärst, hätten wir jetzt vielleicht einen Sohn, dem wir Fragen stellen könnten.«
Jetzt steht Mum auch. Hinter ihren kalten blauen Augen flackert Feuer.
»Wie kannst du es wagen, mir vorzuwerfen, ich hätte mich nicht für euch interessiert. Bis vor ein paar Monaten habe ich alles für euch getan, während du keinen Finger gerührt hast. Und wie kommst du darauf zu behaupten, meine Abreise hätte auch nur irgendetwas mit meinen Kindern zu tun!«
Sie haben sich in den gegenüberliegenden Ecken des Zimmers aufgebaut und ich stehe zwischen ihnen auf dem Bett. Ich strecke die Hände aus und bitte sie aufzuhören. Meine Stimme klingt schrill und undeutlich. Ich schwanke vor lauter Anstrengung, während ich sie anflehe, nicht zu streiten. Plötzlich muss ich mich beherrschen, um nicht zu lachen.
»Bitte«, sagt Dad. »Sag das noch mal. Erzähl mir noch mal, warum du abgehauen bist. Das würde ich liebend gerne hören.«
»Weil ich das Gefühl hatte, dich nicht mehr lieben zu können«, sagt sie, und der Ausdruck ihrer blauen Augen ist furchterregend. Schritt für Schritt gehen sie aufeinander zu, bis sie sich gegenseitig ins Gesicht brüllen.
»Ich kann dir sagen, warum Sam seine Fußballschuhe anhatte, Anna. Weil ich seine Turnschuhe versteckt hatte. Alle. So weit war es schon gekommen. Ich wusste nicht, wie ich ihn sonst bändigen sollte. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen.«
Mum fragt, warum er ihr das verschwiegen hat, warum wir ihr nie davon erzählt haben.
»Warum wir dir das nicht erzählt haben? Warum wir dir das verschwiegen haben?«
Dads Gesicht ist dunkelrot angelaufen. Er ringt nach Luft.
»Darf ich dich daran erinnern, dass du uns verlassen hast? Dass du deine Sachen gepackt und im Kombi verstaut hast. Dass du die Scheidung beantragt hast?«
»Aber ich wäre zurückgekommen!«, schreit Mum. »Ich wäre zurückgekommen!«
»Aber das wusste ich ja nicht. Kapierst du das denn nicht, Frau? Ich wusste das nicht!«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt, Iris?«, fragt mich Mum plötzlich. »Bei unseren vielen Telefonaten. Warum hast du nie auch nur einen Ton davon gesagt?«
Alle beide starren mich an und ich stehe leicht schwankend auf der Matratze in ihrem Bett und nichts ist, wie es sein sollte.
»Hast dir in letzter Zeit ein paar schlechte Angewohnheiten zugelegt«, sagt Dad. Er spricht etwas undeutlich und riecht scheußlich nach Whiskey.
»Jetzt fang nicht damit an, Thomas. Lass sie in Ruhe.«
»Nein, du hörst jetzt auf. Dieses Gefasel über Liebe und Gleichberechtigung. Dieser ganze Mist. Du warst nicht hier. Punkt.«
Er zeigt auf mich, ohne die Augen von Mum zu lassen.
»Im Krankenhaus hat sie mich dasitzen lassen, ohne nur mit einem Ton zu sagen, was passiert ist. Sieh mich an, Iris.«
»Iris!«, ruft Mum, aber da bin ich schon mitten auf der Treppe.
Ich will nur noch raus, den Himmel über mir spüren und meine Ruhe haben. Stattdessen gehe ich in mein Zimmer. Ich ziehe Tricks Adresse aus meinem Exemplar von »Die Outsider« und übertrage sie sorgfältig auf ein Blatt Papier. Dabei beobachte ich meine Hand, als gehörte sie einer Fremden. Dann gehe ich wieder zurück nach oben. Ich sehe alles wie durch das falsche Ende eines Fernglases.
»Was ist das?«, fragt Dad, als ich meine Hand ausstrecke und ihm die Adresse hinhalte. Seine Stimme heftet sich an meine Fersen, als ich das Zimmer verlasse, ein bedrohlich leises Zischen wie das eines Luftballons voller giftiger Gase.
»Ist sie das? Ist das seine Adresse? Wie lange hast du sie schon?«
Ich warte nicht mehr, bis der Ballon explodiert.
Einundvierzig
I ch verbringe den ganzen Tag im Maisfeld. Ich grabe Löcher in die Furchen, wenn ich auf die Toilette muss. Ich zünde ein Feuer an und röste Maiskolben. Fiasco jagt Kaninchen und ich sporne sie an, eines zu fangen, damit sie auch etwas zu fressen hat und wir niemals wieder nach Hause gehen müssen.
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