Wen liebst du, wenn ich tot bin?
würde ihn nicht widerstandslos aufgeben.
»Wach auf!«, rief ich. Dad warf mir einen tadelnden Blick zu, weil in dem kleinen Zimmer der Intensivstation zwei weitere Familien am Bett ihrer Verwandten ausharrten. Mir fiel auf, dass Dads Knöchel gelblich und Sams Fingerspitzen violett angelaufen waren, weil er sie so fest gedrückt hatte.
Mum sah mich an und lächelte ein verhaltenes, ängstliches Lächeln.
Ich rief noch einmal.
Aber es tat sich nichts.
Dann fing dieses Geräusch an. Es kam von irgendwoher ganz tief aus Sam. Es zerrte fürchterlich an meinen Nerven. Alle meine Hoffnung erstarb, denn dieses Geräusch klang so entseelt, es schien so gar nicht von ihm selbst zu kommen.
»Alles wird gut, Junge«, wollte Dad ihn beruhigen, aber es hörte sich so verzweifelt an, so als würde er zu Sam sagen: Ich liebe dich, egal, was passiert.
Ich spürte, wie es Mum neben mir das Herz zerriss.
Sam schlug die Augen auf, er starrte geradeaus, es war, als ob er nichts sah, gar nichts.
Sechsunddreißig
D ie Tage vergingen und Sams Zustand verbesserte sich nicht. An einem Donnerstag rief man uns in ein kleines Zimmer im siebten Stock. Es hatte keine Fenster.
Dad, Mum und ich saßen auf grauen Polsterstühlen. Hinter uns stand Mary. Sie hatte ihre Hand auf Mums Schulter gelegt. Vor uns stand ein Schreibtisch. An dem Schreibtisch lehnte eine der Fachärztinnen: Dr. Lloyd. Das Zimmer war weißgelb getüncht, so wie fast alle Schulen und Büros und Operationszimmer. An zwei Wänden standen hohe Regale mit Fachbüchern, aber ein Familienfoto gab es nicht. Es sah nicht so aus, als würde das Büro einer bestimmten Person gehören.
Mary drückte meine Schulter und mein Magen machte einen Satz. Ich hörte Mum und Dad atmen. Sie atmeten zu schwer und zu schnell.
Dr. Lloyd blickte sie abwechselnd an, während sie über Sam sprach, hin und wieder auch mich. Ihr grau-weiß gestreifter Rock hatte dieselbe Farbe wie ihr Haar.
»Danke, dass Sie vorbeigekommen sind, um mit mir zu sprechen. Ich werde mich kurz fassen. Es tut mir furchtbar leid, aber wir müssen Ihren Sohn auf einen möglichen Gehirntod hin untersuchen. Das EEG zeigt keine Kurven mehr. Das deutet auf einen kompletten Ausfall der Hirntätigkeit hin.«
Dad ließ den Kopf gegen die Wand fallen und schloss die Augen.
Mary streichelte Mums Schulter. Die Ärztin redete weiter.
»Wenn das Stammhirn nicht mehr arbeitet, kann das Gehirn keine Impulse mehr an den Körper senden und auch keine Reflexe wie Atmung, Augenblinzeln, Schlucken und Husten kontrollieren. Genauso wenig kann es hereinkommende Impulse verarbeiten. Wenn dies der Fall ist, besteht keine Aussicht auf Heilung mehr. Wir glauben, dass Ihr Sohn sich jetzt in diesem Zustand befindet.«
Ich starrte auf den groben mit Linien gemusterten Teppich. Auf die kleinen Staubflusen.
»Ich verstehe nicht«, sagte Mum. »Woher wollen Sie wissen, dass er sich nicht mehr erholen wird? Wie können Sie da so sicher sein?«
Dr. Lloyd erläuterte, wie sehr Sams Gehirn Schaden genommen hatte. Sie sprach von den Tests, die sie mit ihm vorhatten, aber ich konnte ihren Worten nicht richtig folgen. Sie sagte irgendetwas von Augen- und Schluckreflexen. Dass sie ihm die Pupillen fixieren und Wasser in die Ohren träufeln wollten. Mum konnte ihr auch nicht folgen, aber sie fragte dauernd nach.
»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber wir gehen davon aus, dass Ihr Sohn nur deshalb noch am Leben ist, weil wir ihn künstlich am Leben erhalten. Die bisherigen Tests haben keinerlei Gehirnaktivitäten gezeigt. Seit den Krampfanfällen sind diese rapide zurückgegangen.«
Mum sprach von Wundern. Sie bezog sich auf die Geschichten, die man manchmal hört, wenn Menschen jahrelang im Koma liegen und dann aufwachen und Klavier spielen lernen. Sie hörte einfach nicht auf damit. So als könnte das, was die Ärztin gesagt hatte, nicht eintreten, solange sie weiterredete. Dad blickte mit geschlossenen Augen zur Zimmerdecke.
Dr. Lloyd sagte, dass derlei Geschichten sehr viel Schaden anrichteten, weil sie völlig unbegründete Hoffnungen weckten, und dass sie nicht selten von religiösen Eiferern verbreitet würden.
»Solche Patienten würde man von vornherein nicht als hirntot erklären«, sagte sie.
Sie blickte uns an und ich hasste sie dafür, dass sie so gefühlskalt war.
»Wenn Sam auch nur im Geringsten auf unsere Tests reagiert, dann werden wir die Situation nochmals überdenken. Es ist für Sie sicher schwer, sich damit
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