Wen liebst du wirklich?
Cassian fühlte sie sich wie ein Versager. Als Adam vor der Tür aufgetaucht war, hatte sie nicht gewusst, wie sie reagieren sollte. Sollte sie sein Bemühen, tapfer zu sein, respektieren oder ihrem mütterlichen Instinkt folgen und ihn trösten? Zwischen Adam und ihr gab es eine ungeschriebene Regel: Adam sollte versuchen, mit den Schikanen seiner Mitschüler allein fertig zu werden. Darauf hatte er bestanden, als sie anfangs empört versucht hatte, für ihn zu intervenieren.
Jetzt hatte Cassian diese Regel geändert. Und was noch ärgerlicher war: Seine Taktik aus energischer Ansprache, Humor und Mitgefühl hatte funktioniert. Adam hatte seinen Schock ohne Asthmaanfall überstanden und fühlte sich viel besser.
Gereizt gab Laura Möhren und Zwiebeln zum Hackfleisch und rieb etwas Käse. Normalerweise hätte Adam jetzt bedrückt in der Ecke gesessen und sich an seinem Asthmaspray festgehalten. Stattdessen lachte er fröhlich über irgendeine irrwitzige Geschichte, die Cassian ihm erzählte … angeblich war er einmal bei einer Wanderung durch die Ausläufer des Himalaja über hundert Meter einen Abhang hinuntergerutscht und ausgerechnet in einem beachtlichen Haufen Yakmist gelandet. Ha!
"Wir sollten in der Schule Bescheid sagen, dass du hier bist, Adam", unterbrach sie schroff Cassians spannende Erzählungen.
"Ruf sie nach dem Mittagessen an", meinte Cassian lässig.
"Wir haben kein Telefon." Sie begegnete abweisend seinem erstaunten Blick. "Zu teuer. Ich muss zur Schule laufen."
"Das sind ja vier Meilen!" protestierte er. "Hör auf, die Märtyrerin zu spielen. Du kannst mein Handy benutzen oder meinen Wagen nehmen."
"Ich nehme das Telefon. Danke", sagte sie kleinlaut.
"Mum hat keinen Führerschein", warf Adam erklärend ein.
"Vielleicht sollte ich ihr einige Fahrstunden geben", meinte Cassian beiläufig.
Laura sah ihn überrascht an. Das bedeutete doch, sie bekam einen Aufschub! Lange genug, um Autofahren zu lernen. Aber was hatte das für einen Sinn, wenn sie sich doch kein Auto leisten konnte? Egal, nur der Aufschub war wichtig.
"Du sagst ihnen doch nicht, was passiert ist, oder, Mum?" fragte Adam besorgt.
"Darling, ich kann nicht zulassen, dass man dir so wehtut, ohne …"
"Bitte!" Er sah sie flehentlich an. "Du machst es nur schlimmer!"
Unwillkürlich blickte sie Cassian an. Was sollte sie tun? "Du bist doch auch schikaniert worden", sagte sie leise. Noch sehr gut erinnerte sie sich, wie oft er mit zerrissener Kleidung, Schürfwunden und blauen Flecken nach Hause gekommen war. Aber er hatte nie um Hilfe gebeten. Und irgendwann hatten die Schikanen dann plötzlich aufgehört. "Was meinst du?"
"Ich wollte nicht, dass sich Erwachsene einmischen", antwortete er. "Aber es gibt keine Patentlösung. Jeder muss das für sich entscheiden. Manche Kinder haben nicht die Kraft, allein damit klarzukommen. Adam, wenn du glaubst, dass du dich vom Opfer zum Sieger wandeln kannst, dann geh es an."
Ein kluger Rat, dachte Laura. Sie sah, dass ihr Sohn sich unwillkürlich aufrichtete, und begriff, wie sehr Cassian Adam helfen konnte.
"Wie lange bleibst du?" fragte Adam, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
"Eine Weile. Heute Abend ziehe ich ein." Cassian lächelte gewinnend.
"Cool!"
Laura warf Cassian einen verstohlenen Blick zu und stellte fest, dass er sie aufmerksam beobachtete. Wieder durchzuckte es sie wie elektrisiert.
"Ich war zwölf, als ich das erste Mal nach Thrushton kam", erzählte er jetzt.
"Und? Hat es dir hier gefallen?" fragte Adam eifrig.
"Tante Enid habe ich gehasst, Thrushton geliebt", antwortete Cassian ehrlich.
Adam lachte. "Warum?"
"Enid war eine alte Hexe. Eine strenge, humorlose Frau, die der Auffassung war, dass man Kinder weder sehen noch hören sollte. Wahrscheinlich wäre es ihr am liebsten gewesen, sie wären bereits als Erwachsene geboren worden mit einem Universitätsabschluss in Gehorsam und Schweigsamkeit."
"Cassian!" warf Laura tadelnd ein, während Adam fasziniert lauschte.
"Ich höre ihre Stimme!" sagte Cassian bedeutsam, und Laura errötete beschämt, weil sie sich ertappt fühlte. "Ihr Lieblingswort war 'Nein', und sie hatte die Angewohntheit, mit den Zähnen zu knirschen, dass man sich gut vorstellen konnte, sie hätte Terminator I, II und III zwischen ihren Kiefern zermalmen können."
Adam lachte beeindruckt. "Aber Thrushton hat dir gefallen, ja?"
"O ja. Da draußen …" Cassian blickte verträumt zum Fenster hinaus. "Die Landschaft ist wild, frei und offen. Man
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