Wende
geahnt, dass die Berufung zu dieser Aufgabe zumindest bei einigen Mönchen Stolz hervorrufen könnte, und dem suchte er vorzubeugen: »Wer den Dienst antritt, erbitte nach der Messe und der Kommunion das Gebet aller, damit Gott den Geist der Überheblichkeit von ihm fernhalte.« 8 Andere, so fürchtete der Ordensgründer, könnten die Lesung zum Anlass nehmen, über das Gehörte zu spotten oder einfach nur zu schwätzen. Und auf keinen Fall wollte er Debatten und Streitgespräche provozieren. Also traf er auch dagegen Vorkehrung:
Es herrsche größte Stille. Kein Flüstern und kein Laut sei zu hören, nur die Stimme des Lesers. Was sie aber beim Essen und Trinken brauchen, sollen die Brüder einander so reichen, daß keiner um etwas bitten muß.
Fehlt trotzdem etwas, erbitte man es eher mit einem vernehmbaren Zeichen als durch ein Wort.
Niemand nehme sich heraus, bei Tisch Fragen über die Lesung oder über etwas anderes zu stellen, damit es keine Gelegenheit zum Unfrieden gibt. 9
»Gelegenheit zum Unfrieden« – in einem sonst sehr klaren Text erstaunt diese vage Formulierung. Gelegenheit für wen oder was genau? Moderne Herausgeber setzen hier manchmal »dem Teufel« ein, und wahrscheinlich war der wohl auch gemeint. Aber warum sollte eine Frage zum Gelesenen den Fürsten der Finsternis zu Weiterem, Schlimmerem anregen? Darauf gibt es nur eine Antwort: Jede Frage, wie unschuldig auch immer,
beschwört die Möglichkeit eines Streitgesprächs herauf – und eine Diskussion hätte ja wohl bedeutet, dass religiöse Lehren tatsächlich Gegenstand kritischer Untersuchungen und Erörterung sind.
Benedikt hat nicht völlig verboten, dass die laut gelesenen heiligen Texte kommentiert wurden, aber er wollte die Anlässe einschränken. Denn, so besagt die Regel: »Der Obere kann zur Erbauung kurz etwas sagen.« 10 Aber auch kommentierende Worte waren nicht zu bezweifeln, kein Widerspruch war geduldet, tatsächlich war, im Prinzip jedenfalls, jeder Disput zu unterbinden. Wie die Strafen, die in der einflussreichen Regel des irischen Mönchs Columbanus (geboren im Sterbejahr Benedikts) aufgelistet sind, deutlich zeigen, machte es keinen Unterschied, ob eine Debatte der intellektuellen Auseinandersetzung diente oder anderen Zwecken – sie war so oder so verboten. Sollte es ein Mönch wagen, einem Mitbruder mit den Worten »Es ist nicht so, wie du sagst« zu widersprechen, drohte ihm eine schwere Strafe: »Schweigegebot oder fünfzig Schläge«. Es waren wirklich hohe Mauern, die das geistige Leben der Mönche umschlossen – Schweigegebot, das Verbot, Fragen zu stellen, die Bestrafung von Debatten mit Schlägen oder Peitschenhieben –, und mit alledem sollte nur eines erreicht werden: Die Klosteroberen wollten unbezweifelbar klarstellen, dass diese frommen Gemeinschaften das genaue Gegenteil der philosophischen Akademien Griechenlands oder Roms waren; das Gegenbild jener Orte, die erst aufblühten durch den Geist des Widerspruchs und an denen eine unermüdliche, weit ausgreifende Neugier gefördert wurde.
Gleichwohl verlangten die Klosterregeln das Lesen. Und diese Forderung genügte, um eine ganze Kettenreaktion auszulösen. Lesen war nicht eine Möglichkeit unter anderen, war weder bloß wünschenswert noch bloß empfohlen – es war obligatorisch. Und das in einer Gemeinschaft, die ihre Verpflichtungen todernst nahm. Wer aber lesen soll, der braucht Bücher. Und diese, mochte man sie noch so sorgfältig behandeln, gingen, indem sie wieder und wieder aufgeschlagen wurden, irgendwann doch kaputt. So sorgten die Klosterregeln fast unausweichlich dafür, dass die Mönche Bücher kaufen oder auf andere Weise erwerben mussten. Mitte des sechsten Jahrhunderts tobten die grausam geführten Gotenkriege, und zu deren noch elenderen Nachwirkungen gehörte schließlich auch, dass die letzten Werkstätten der Buchproduktion dichtmachen mussten. Zugleich
gingen auch die Rudimente eines Buchmarkts unter. Doch es gab die Klosterregeln, und sie brachten die Mönche dazu, ihre Bücher sorgfältig zu bewahren und diejenigen zu kopieren, die sie bereits im Besitz hatten. Aber auch der Handel mit den Papyrushändlern Ägyptens war längst zusammengebrochen, und weil es keinen regelmäßigen Handel mit Büchern mehr gab, waren auch die Werkstätten verwaist, in denen Tierhäute zu Schreibmaterial verarbeitet worden waren. So blieb den Mönchen nichts anderes übrig, als das aufwändige Geschäft der Pergamentherstellung und des
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