Wende
Bewahrens alter Pergamente selbst zu erlernen. Natürlich hatten die frommen Brüder nicht im Sinn, die heidnischen Eliten wiederzubeleben, indem sie Bücher oder das Schreiben in den Mittelpunkt der Gesellschaft rückten. Sie wollten auch die Bedeutung von Rhetorik und Grammatik nicht eigens herausstellen, weder Studium noch Debatte fördern und preisen, und doch wurden sie zu den wichtigsten Lesern, Bibliothekaren, Buchrestauratoren und Bücherproduzenten der damaligen abendländischen Welt.
Poggio und den anderen Humanisten, die den verlorenen Klassikern auf der Spur waren, war all das nicht unbekannt. Viele Klosterbibliotheken in Italien hatten sie bereits durchstöbert, waren Petrarcas Beispiel auch in Frankreich gefolgt, und so blieben zuletzt nur noch die Schweiz und Deutschland als unerforschte Territorien. Allerdings waren viele der Klöster dort extrem mühsam zu erreichen, denn ihre Gründer hatten sie bewusst an abgelegenen Orten errichtet, möglichst weit entfernt von den Versuchungen, Ablenkungen und Gefahren der Welt. Doch wenn nun ein auf Bücher versessener Humanist die Unbequemlichkeiten und Risiken des Reisens überstanden und tatsächlich eines der entlegenen Klöster erreicht hatte, was dann? Zunächst waren es nur wenige Gelehrte, die wussten, wonach sie zu suchen hatten, und, wenn ihnen Glück und Zufall hold waren, auch rasch erfassen und beurteilen konnten, auf was sie da gestoßen waren. Als Erstes stellte sich das Problem des Zugangs. Wenn sie die Klosterpforte durchschreiten und Zutritt zur Bibliothek erhalten wollten, musste es ihnen gelingen, einen misstrauischen Abt und einen noch viel misstrauischeren Bibliothekar davon zu überzeugen, dass ihr Kommen und ganz sicher auch ihre Absichten legitim waren. In der Regel nämlich
erhielten Außenstehende keinen Zugang zur Bibliothek. Petrarca war Kleriker, er konnte sein Ansinnen immerhin von innen her, als Mitglied der weiten institutionellen Gemeinschaft der Kirche, formulieren. Viele Humanisten aber waren Laien und weckten allein dadurch sofort Misstrauen und Verdacht.
Doch damit noch nicht genug, es stellten sich weitere Probleme. Denn wenn ein Buchjäger ein Kloster erreicht hatte, wenn er die gut gesicherte Pforte hatte durchschreiten, die Bibliothek betreten können, wenn er dann tatsächlich einen interessanten Fund gemacht hatte, was war zu tun mit der Handschrift, die er entdeckt hatte?
Bücher waren selten und wertvoll. Sie trugen zum Ruf des Klosters bei, zu dessen Besitz sie gehörten, und die Mönche waren kaum geneigt, sie aus den Augen zu lassen, schon gar nicht, wenn sie bereits Erfahrungen mit langfingrigen Humanisten aus Italien gemacht hatten. Gelegentlich suchten Klöster ihren Besitz zu sichern, indem sie ihre wertvollen Handschriften mit Flüchen belegten. Hier ein Beispiel:
Möge es sich in der Hand dessen, der es stiehlt oder ausleiht und nicht zurückgibt, in eine Schlange verwandeln und diesen zerfleischen. Mit Lähmung sei er geschlagen, und seine Glieder mögen verdorren. Er winde sich in Schmerzen, winsele laut um Gnade, doch möge sein Todeskrampf nicht nachlassen, bis er wimmernd zerfällt. Buchwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen zum Zeichen des Gewürms, das niemals stirbt, und wenn er schließlich seiner letzten Strafe entgegengeht, mögen die Flammen der Hölle auf ewig an ihm zehren. 11
Selbst ein weltlicher Skeptiker, den es stark nach einem solchen Band verlangte, wird gezögert haben, ihn unter seinen Umhang zu schieben.
Waren die Mönche arm, vielleicht auch schlicht käuflich, konnte man ihnen Geld anbieten, damit sie sich von ihren Büchern trennten. Doch schon das Interesse, das ein Fremder zeigte, wird den Preis in die Höhe getrieben haben. Natürlich hätte man den Abt um Erlaubnis bitten können, das Buch mitzunehmen, verbunden mit dem feierlichen Versprechen, es eilends zurückzubringen. Es mag gutgläubige oder vertrauensselige Äbte gegeben haben, aber sie waren dünn gesät. Erzwingen konnte man das
Einverständnis nicht, und lautete die Antwort einmal Nein, dann war das ganze Unternehmen ein Reinfall. Dann blieb nur, dem Fluchbann zu trotzen und zu versuchen, die Handschrift zu stehlen. In den Klöstern allerdings herrschte ohnehin schon eine Kultur des Überwachens, und in der standen Besucher unter besonders strikter Beobachtung. Zudem blieben die Pforten des Nachts verschlossen, und einige Brüder waren durchaus gestandene Kerle; es hätte ihnen wenig ausgemacht, einen
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