Wende
besessene Bücherjäger, seit nämlich der Dichter und Gelehrte Petrarca sich damit Ruhm erworben hatte, dass er um die 1330er Jahre Livius’ Monumentalwerk Ab urbe condita (Römische Geschichte – Von der Gründung der Stadt an) aus Fragmenten rekonstruiert, dazu vergessene Meisterwerke von Cicero, Propertius und anderen wiederentdeckt hatte. 1 Mit seinem Erfolg hat Petrarca andere dazu animiert, nach verlorenen Klassikern zu suchen, die häufig seit Jahrhunderten irgendwo ungelesen herumgelegen hatten. Die wiederentdeckten Texte wurden kopiert, ediert und kommentiert, sodann eifrig ausgetauscht, womit sie zum Ruhm ihrer Wiederentdecker beitrugen. So bildeten sich die Grundlagen der studia humanitatis heraus; sachlich entsprachen diese in etwa dem, was im angelsächsischen Sprachgebrauch »Humanities« genannt wird.
Die »Humanisten« – so die Bezeichnung der Männer, die Grammatik, Rhetorik, Poesie, (Moral-)Philosophie und antike Geschichte in der praktischen Absicht einer umfassenden Geistesbildung studierten und lehrten – hatten, soweit diese erhalten waren, die Texte aus der Zeit der römischen Klassik gründlich gelesen und wussten darum, dass viele damals berühmte Bücher oder Teile solcher Bücher fehlten. Schmerzliche Neugier wurde wach, wenn Poggio und seine humanistischen Kollegen und Freunde in den Schriften antiker Autoren, die sie so gespannt lasen, immer wieder auf Zitate aus jenen verlorenen Büchern stießen, oft verbunden mit überschwänglichem Lob oder scharfzüngiger Kritik. So etwa bemerkt der römische Rhetoriker Quintilian im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Vergil und Ovid, »Macer und Lukrez muss man zwar lesen, doch nicht so, als ob sie für das Ausdrucksvermögen ... etwas einbrächten«, geht
dann auf Schriften von Publius Terentius Varro, auch Atacinus genannt, Cornelius Severus, Saleius Bassus, Gaius Rabirius, Albinovanus Pedo, Marcus Furius Bibaculus, Lucius Accius, Marcus Pacuvius und andere ein, die er sehr bewundert. 2 Die Humanisten wussten, dass einige dieser ihnen unbekannten Schriften wahrscheinlich für immer verloren waren – und tatsächlich stellte sich heraus, dass dies auf alle der oben erwähnten Autoren zutraf: mit Ausnahme von Lukrez. Doch warum sollten sich nicht andere Werke, vielleicht sogar viele andere Werke erhalten haben, irgendwo versteckt an dunklen Orten, nicht nur in Italien, sondern auch jenseits der Alpen? Hatte nicht Petrarca eine Handschrift von Ciceros Pro Archia (Rede für den Dichter Archias) im belgischen Lüttich aufgestöbert und das Propertius-Manuskript in Paris?
Bibliotheken alter Klöster waren die wichtigsten Jagdreviere für Poggio und die anderen Bücherjäger, und das aus gutem Grund: Über Jahrhunderte hinweg waren Klöster praktisch die einzigen Institutionen, die sich um Bücher kümmerten. Selbst in stabilen und prosperierenden Zeiten des Römischen Imperiums war, nach unseren Maßstäben, die Zahl derer, die lesen und schreiben konnten, nur sehr klein. 3 Als das Reich bröckelte, die Städte verfielen, der Handel erlahmte und die Bevölkerung die Horizonte zunehmend verängstigt nach barbarischen Horden absuchte, zerfiel auch das römische System elementarer und höherer Bildung. Zunächst wurden die Schulen kleiner, dann verschwanden sie ganz, und mit den Schulen schlossen die Bibliotheken und Akademien, Grammatiker und andere Lehrer wurden arbeitslos. Und es gab wichtigere Dinge, um die man sich sorgen musste, als Bücher.
Nur von Mönchen wurde erwartet, dass sie lesen konnten. In einer Welt, die zunehmend von ungebildeten, des Lesens unkundigen Kriegsherren bestimmt wurde, bekam diese Forderung, die in der Frühzeit des Klosterwesens formuliert wurde, unschätzbare Bedeutung. Hier folgt die Regel, die der koptische Heilige Pachomius Ende des vierten Jahrhunderts formuliert hatte und die in Ägypten und während des gesamten Mittelalters in Klöstern galt. Darin, in Regel 139, heißt es, die Klosterältesten sollen, wenn sich ein Neuling um die Aufnahme in das Kloster bewirbt,
ihm zwanzig Psalmen oder zwei Apostelbriefe oder ein [entsprechendes] Stück aus der übrigen [Heiligen] Schrift aufgeben [zum Auswendiglernen]. Und wenn er des Lesens unkundig ist, soll er zur ersten, dritten und sechsten Stunde zu einem befähigten Lehrer gehen, der ihm zugewiesen wurde, und soll mit größtem Eifer und mit allem Dank [als Schüler] vor ihm stehen. Später soll man ihm die Buchstaben, Silben, Tätigkeitswörter,
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