Wende
Jahrhunderte hinweg immer wieder rezipierte. 1 Italienischen Humanisten, die Hinweisen auf verlorene Werke nachgingen, wären selbst flüchtigste Referenzen in Werken der berühmten Autoren nicht entgangen, deren Schriften sich in größerer Zahl erhalten hatten. Cicero etwa – Poggios lateinischer Lieblingsautor –, der Lukrez’ philosophische Prinzipien grundsätzlich ablehnte, lobte gleichwohl die wunderbar poetische Kraft von De rerum natura. »Mit Lukrez’ Gedichten«, schreibt er seinem Bruder Quintus im Februar 54 v.u.Z., »ist es, wie du schreibst: manch schöner Geistesblitz, aber doch auch bemerkenswerter Kunstsinn.« 2 Die Wendung, die Cicero wählt – vor allem das erstaunliche »doch auch« (lateinisch »tamen«) – , zeigt, wie überrascht er war: Da lag etwas ganz Ungewöhnliches in seiner Hand. Er hatte ein Gedicht kennen gelernt, in dem sich ein philosophisch und wissenschaftlich leuchtender Geist mit einer ungewöhnlichen dichterischen Kraft verband – eine Verbindung, die damals ebenso rar war wie heute. Cicero und sein Bruder waren nicht die Einzigen, die begriffen, wie nahezu vollkommen es Lukrez gelungen war, geistige Distinktion und ästhetische Meisterschaft zu verbinden. Auch Vergil, der größte römische Dichter, der, als Lukrez starb, um die fünfzehn Jahre alt war, stand im Bann von De rerum natura. In den Georgica schreibt er:
Selig, wem es gelang, der Ding’ Ursprung zu ergründen,
Und wer jegliche Furcht und das unerbittliche Schicksal
Niedertrat, das Getöse des gierigen Acheron höhnend. 3
Angenommen, dies wäre eine feine Anspielung auf den Titel von Lukrez’ Gedicht, dann ist der ältere Poet in dieser Darstellung ein Held, der Mann, der das bedrohliche Gebrüll der Unterwelt gehört und die abergläubischen Ängste dennoch besiegt hat, die den menschlichen Geist aushöhlen. Vergil nennt seinen Helden nicht mit Namen, und Poggio, der die Georgica mit Sicherheit gelesen hat, wird die Anspielung erst begriffen haben, nachdem auch er Lukrez gelesen hatte. Noch weniger wird ihm klar gewesen sein, wie weitgehend und durchgängig Vergil versucht hat, sein großes Epos, die Aeneis, als Gegenstück zu De rerum natura zu konstruieren: Gläubig, wo Lukrez sich skeptisch zeigte, kämpferisch patriotisch, wo Lukrez zu Pazifismus riet, nüchtern entsagend, wo Lukrez zur Suche nach Vergnügen drängte. 4
Was Poggio und den anderen italienischen Humanisten jedoch bestimmt aufgefallen ist, sind Worte Ovids; Worte, die jeden Bücherjäger dazu gebracht hätten, die Kataloge von Klosterbibliotheken zu durchforsten:
Die Gedichte des erhabenen Lukrez werden erst dann vergehn,
wenn ein einziger Tag alle Welt vernichten wird. 5
Liest man solche Zeilen, versteht man immer weniger, dass Lukrez’ Verse so gut wie verloren waren – tatsächlich hing das Überleben seines Werkes an allerdünnsten Fäden – und dass so gut wie nichts Verlässliches über die Person dieses Dichters bekannt ist. Viele der großen Dichter und Philosophen des antiken Rom waren zu ihrer Zeit Berühmtheiten, Gegenstand von Klatschgeschichten; auch diese durchforsteten die besessenen Bücherjäger sehr viel später nach Hinweisen. In Lukrez’ Fall aber gab und gibt es so gut wie keine biographischen Spuren. Er muss ein sehr scheuer Dichter gewesen sein, sein Leben im Verborgenen geführt haben, und er hat allem Anschein nach außer diesem einen großen Gedicht nichts weiter geschrieben. Und das war auch damals schon schwierig, inhaltlich umstritten, jedenfalls wird De rerum natura kaum ein Erfolgsbuch gewesen sein, gewiss nicht in vielen Kopien verbreitet. Wohl deswegen haben sich dann nicht einmal Fragmente in größerer Zahl bis ins Mittelalter erhalten. Wenn Wissenschaftler heute zurückblicken, aus großem zeitlichen
Abstand und im beruhigenden Bewusstsein, dass Lukrez’ Meisterwerk nun nicht mehr verloren gehen wird, dann gelingt es ihnen auch, ein ganzes Netzwerk frühmittelalterlicher Hinweise auf das Werk zu erkennen – hier ein Zitat, dort ein Eintrag in einem Katalog. Für die Bücherjäger des beginnenden 15. Jahrhunderts dagegen blieben die meisten solcher Hinweise schlicht unsichtbar. Sie tappten im Dunkeln, vernahmen vielleicht ahnungsvoll ein Gespinst von Wehklagen, an ihren Ursprung zurückverfolgen konnten sie diese aber nicht. Doch selbst wir in ihrer Nachfolge, nach weiteren fast sechshundert Jahren Arbeit von Altertumsforschern, Historikern und Archäologen, wissen nicht viel mehr
Weitere Kostenlose Bücher