Wende
über die Identität dieses Schriftstellers als sie.
Die Lucretii waren ein alter vornehmer römischer Familienclan – was Poggio gewusst haben könnte –, doch weil Sklaven, wenn sie freigelassen wurden, oft den Namen der Familie annahmen, deren Eigentum sie gewesen waren, muss der Schriftsteller nicht notwendig ein Aristokrat gewesen sein; andererseits ist eine adlige Abstammung nicht unwahrscheinlich, schon aus dem einfachen Grund, dass Lukrez sein Gedicht mit sehr intimen Worten dem adligen Gaius Memmius widmete. 6 7 Diesem Namen könnte Poggio bei seiner ausgiebigen Lektüre begegnet sein, denn Memmius hatte eine ziemlich erfolgreiche Laufbahn als Politiker hinter sich, war Förderer berühmter Schriftsteller, darunter des Liebesdichters Catull, und auch selbst ein geachteter Dichter (wie Ovid behauptet, ein obszöner). Auch als Redner hatte er sich hervorgetan, und zwar als einer, wie Cicero etwas grummelnd bemerkt, »von der subtilen und scharfsinnigen Art«. Wer aber war Lukrez? Diese Frage blieb.
Für Poggio und seinen Kreis lag die Antwort fast ausschließlich in einer kurzen biographischen Skizze, die der Kirchenvater Hieronymus (um 340–420) einer Chronik hinzugefügt hat. Für das Jahr 94 v.u.Z. hält er fest:
Der Dichter Titus Lucretius wurde geboren. Nachdem ihn ein Liebestrank in den Wahnsinn stürzte, und er in den Pausen seines Wahns mehrere Bücher geschrieben hatte, die später Cicero durchsah, tötete er sich in seinem vierundvierzigsten Lebensjahr mit eigener Hand.7
Diese reißerischen Details haben alle späteren Darstellungen von Leben und Person des Lukrez gefärbt, darunter auch das berühmte viktorianische Gedicht, in dem Alfred Tennyson die Stimme des wahnsinnigen, todessüchtigen Philosophen imaginiert, der, von seinen erotischen Phantasien verfolgt, schließlich Selbstmord begeht. 8
Wie moderne Altertumswissenschaftler betonen, ist jede von Hieronymus’ biographischen Behauptungen mit großer Skepsis zu betrachten. Jahrhunderte nach Lukrez’ Tod habe sie ein christlicher Polemiker aufgezeichnet – oder erfunden –, und dies im Interesse, Geschichten in die Welt zu setzen, die Christen abschrecken würden, derartige heidnische Philosophen zu lesen. Natürlich hätte kein guter Christenmensch des 15. Jahrhunderts den Bericht eines Heiligen bezweifelt, und auch Poggio wird davon ausgegangen sein, dass das Gedicht, das er gefunden hatte und wieder in Umlauf bringen wollte, die Kainsmale von Wahnsinn und Selbstmord seines Autors trug. Der humanistische Bücherjäger gehörte aber einer Generation an, die es leidenschaftlich danach verlangte, antike Texte auszugraben, für sie spielte es keine große Rolle, ob das Leben ihrer Autoren moralische Verwirrung und Todsünde verkörperte oder nicht. Außerdem hätte allein die Vorstellung, Cicero habe das Gedicht durchgesehen, genügt, um alle lauernden Zweifel zu besänftigen.
Auch in den über sechzehnhundert Jahren, die inzwischen seit Hieronymus’ Eintrag in die Chronik vergangen sind, sind keine weiteren biographischen Nachrichten aufgetaucht, keine Bestätigung, aber auch keine Widerlegung der Geschichte vom Liebestrank und seinen tragischen Folgen. Und also wissen auch wir über die Person Lukrez nicht mehr als das wenige, das man bereits 1417 wissen konnte, als Poggio das Gedicht entdeckte. 9 Nochmal: Denkt man an Ovids verschwenderisches Lob der Verse des göttlichen Lukrez, auch an andere Hinweise auf den Einfluss des Gedichts, bleibt erst recht rätselhaft, warum Lukrez’ Zeitgenossen und unmittelbar Nachgeborene so wenig über ihn und seine Person gesagt haben. Erst archäologische Entdeckungen, die lange nach Poggios Tod gemacht wurden, haben uns auf eine etwas gruselige Weise geholfen, der Welt, in der De rerum natura zum ersten Mal gelesen wurde, und damit vielleicht auch dem Dichter selbst näher zu kommen.
Für diese Möglichkeit sorgte eine berühmte Katastrophe in der Antike.
Am 24. August 79 u.Z. zerstörte eine gewaltige Eruption des Vesuv nicht nur Pompeji, sondern auch den kleinen Badeort Herculaneum in der Bucht des heutigen Neapel. Unter knapp zwanzig Metern Vulkanasche begraben, die inzwischen die Dichte von Zement angenommen hatte, war dieser Ort, an dem reiche Römer ihre Ferien in eleganten, kolonnadengeschmückten Villen verbracht hatten, in Vergessenheit geraten – bis im 18. Jahrhundert Arbeiter, die einen Brunnen graben sollten, auf einige Marmorstatuen stießen. Ein Offizier in
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