Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
Vom Netzwerk:
kamen der Unsterblichkeit näher, von der sie in ihrer Kunst träumten; Philosophen konnten ihre Gedanken sogar noch ungeborenen Schülern offenbaren. Wie zuvor die Griechen haben auch die Römer schnell begriffen, dass eigentlich kein besserer Schreibgrund zur Verfügung stand, und sie importierten Papyrus in großen Mengen aus Ägypten, um den wachsenden Bedarf für Aufzeichnungen, offizielle Dokumente, private Briefe und Bücher zu decken. Eine Papyrusrolle konnte mindestens dreihundert Jahre überdauern.
    Wie man rekonstruierte, 13 liefen um den in Herculaneum freigelegten Raum einst hölzerne Regale; in der Mitte fanden sich Reste dessen, was einmal ein großer rechtwinkliger, freistehender Bücherschrank gewesen war. Im ganzen Raum verstreut lagen – so brüchig, dass sie bei bloßer Berührung zerfielen – auch verkohlte Reste der Wachstäfelchen, auf denen sich Leser einst Notizen gemacht hatten. (Sie ließen sich mit einem Spatel löschen wie die Zauberblocks, mit denen Kinder gerne spielen.) In den Regalen stapelten sich Papyrusrollen. Einige davon, vermutlich die wertvolleren, steckten in Hüllen aus Baumrinde, die an beiden Enden mit Holzdeckeln verschlossen waren. In einem anderen Teil der Villa waren Rollen offenbar hastig in eine hölzerne Kiste gesteckt worden, so als hätte an diesem fürchterlichen Augusttag jemand für einen kurzen entsetzten Moment geglaubt, er könnte einige der wertvollsten Bücher vor diesem Brandopfer retten – sie waren, als man sie barg, zu einer Masse verschmolzen. Trotz des unwiederbringlichen Verlusts vieler, die zerfallen waren, bevor man recht wusste, was man da gefunden hatte, wurden insgesamt immer noch rund elfhundert Textrollen geborgen.
    Viele Rollen aus der Villa, die man schließlich Villa dei Papiri nannte, waren durch herabfallende Trümmer und den Vulkanschlamm zerstört; alle waren durch Lava, Asche und Gase des Vulkanausbruchs karbonisiert. Doch was die Rollen geschwärzt hatte, hat sie auch vor weiterem Verfall geschützt. Über Jahrhunderte lagen sie wie in einem luftdichten Behälter versiegelt. (Selbst heute ist nur ein kleiner Teil der Villa ans Tageslicht gebracht worden, beträchtliche Teile blieben unausgegraben.) Die Ausgräber allerdings waren enttäuscht: Von dem, was auf die verkohlten Rollen
geschrieben worden war, ließ sich so gut wie nichts entziffern. Immer wieder versuchte man, die Rollen abzuwickeln, immer wieder zerfielen sie in Fragmente.
    Dutzende, wenn nicht Hunderte von Büchern wurden bei diesen Versuchen zerstört. Schließlich aber hat man eine Reihe von Rollen aufgeschnitten, und wie sich herausstellte, enthielten die zur Mitte gelegenen Teile lesbare Passagen. Nach zwei Jahren mehr oder weniger fruchtloser, aber zerstörerischer Versuche wurde Pater Antonio Piaggio hinzugezogen, ein gelehrter Piaristenmönch, der in der vatikanischen Bibliothek arbeitete. Er wandte sich gegen das bis dahin übliche Verfahren – man kratzte die äußeren verkohlten Schichten ab, bis man einige Wörter lesen konnte – und entwickelte ein geniales Gerät, eine Maschine, mit der sich die verkohlten Papyrusrollen langsam und vorsichtig abrollen ließen. Auf diese Weise gelang es, sehr viel mehr lesbare Passagen zu Tage zu fördern, als man anfänglich überhaupt erhalten glaubte.
    Die wiederentdeckten Texte wurden sorgfältig geglättet und auf Streifen geklebt, das Entziffern konnte beginnen. Wie sich nun herausstellte, war die Bibliothek der Villa (zumindest der Teil, den man gefunden hatte) spezialisiert: Viele Rollen enthielten Abhandlungen in griechischer Sprache, verfasst von einem Philosophen namens Philodemus. Die Forscher waren enttäuscht, hatten sie doch gehofft, verlorene Werke von Autoren finden zu können, die in ihrer Bedeutung Sophokles oder Vergil gleichkamen. Dennoch hatte der so unerwartet dem Vergessen entrissene Fund bedeutsame Folgen für die Entdeckung, die Poggio Jahrhunderte zuvor gelungen war. Denn Philodemus, der von ungefähr 75 bis um 40 v.u.Z. in Rom gelehrt hatte, war nicht nur Zeitgenosse von Lukrez, sondern auch Anhänger der Denkschule, die jener in De rerum natura so vollkommen dargestellt hat.
    Warum befanden sich Werke eines eher zweitrangigen griechischen Philosophen in der Bibliothek einer eleganten Villa am Meer? Warum enthielt ein Feriensitz überhaupt eine derart umfangreiche Bibliothek? Philodemus, ein Lehrer, der dafür bezahlt wurde, dass er Unterricht gab und Vorträge hielt, war gewiss nicht

Weitere Kostenlose Bücher