Wende
österreichischen Diensten – Neapel gehörte damals zum Habsburgerreich – übernahm die Leitung der anschließenden Grabungen, und die Ausgräber begannen, Stollen in die dicke Kruste zu treiben.
Die Ausgrabungen, die auch fortgesetzt wurden, nachdem Neapel unter bourbonische Herrschaft geraten war, wurden ohne jedes Feingefühl ausgeführt; es handelte sich weniger um archäologische Untersuchungen als um eine längere Phase des Aufbrechens und Plünderns. Über ein Jahrzehnt lag die Leitung bei Roque Joaquin de Alcubierre, einem spanischen Armee-Ingenieur, der in der Grabungsstätte offenbar eine versteinerte Abraumhalde, in der jemand unverantwortlich Beutegut vergraben hatte, sah und sie auch so behandeln ließ. (Winckelmann schrieb dazu: »Dieser Mann, der mit den Alterthümern so wenig zu thun gehabt hatte, als der Mond mit den Krebsen, nach dem Welschen Sprichworte, war durch seine Unerfahrenheit schuld an vielem Schaden und an dem Verluste vieler schöner Sachen.«) 10 Auf der Suche nach Statuen, Gemmen, wertvollem Marmor und was ihnen sonst als »Schatz« vertraut war, wühlten sich die Ausgräber voran, fanden die Objekte ihrer Begierde in Hülle und Fülle, die sie dann in unsortierten Haufen ihren königlichen Auftraggebern schickten.
1750, unter einem neuen Direktor, wurden die Ausgräber etwas vorsichtiger in ihrem Tun. Drei Jahre später trieben sie ihre Stollen durch eine Villa und stießen dabei auf etwas Merkwürdiges: In einem Raum, dessen Fußboden einst mit einem Mosaik geschmückt war, befanden sich haufenweise Objekte, die, »etwa eine halbe Handbreit lang und rund«, wie einer von ihnen schrieb, »aussahen wie Wurzeln aus Holz, ganz schwarz, und anscheinend aus einem Stück«. 11 Zunächst dachte man, man sei auf ein Lager von Holzkohle-Briketts gestoßen, von denen sie auch einige verfeuerten, um
die Kühle des frühen Morgens zu vertreiben. Andere hielten die merkwürdigen Fragmente für aufgerollte und verkohlte Stoffe, manche dachten auch an Fischernetze. Dann aber fiel eines der Objekte zufällig zu Boden und brach auf Und als die Ausgräber im Innern dessen, was sie für verkohltes Holz gehalten hatten, plötzlich Buchstaben erkannten, wurde ihnen klar, womit sie es wirklich zu tun hatten: mit Büchern. Sie waren auf die Überreste einer privaten Bibliothek gestoßen.
Die Bände, die Römer in ihren Bibliotheken stapelten, waren kleiner als neuzeitliche Bücher: Die meisten waren auf Papyrusrollen geschrieben worden. 12 (»Volume«, das englische Wort für Buch oder Band, stammt von volumen, dem lateinischen Wort für Buch- oder Papyrusrolle.) Unser Wort »Papier«, englisch »paper«, ist von jener hohen Schilfpflanze abgeleitet, die im Nildelta wuchs, dem Rohstoff für den Schreibgrund Papyrus. Das Schilfrohr wurde geerntet, die Stängel aufgespalten, das Mark in sehr dünne, bis zu vier Zentimeter breite Streifen geschnitten. Diese wiederum legte man leicht überlappend nebeneinander, darüber, rechtwinklig zur ersten, eine weitere Lage. Dieser Bogen wurde dann leicht gepresst und mit einem Hammer oder Schlegel geklopft. Dadurch trat Saft aus dem Mark aus, der die Fasern miteinander verklebte. Die so produzierten Blätter wurden dann zu Rollen zusammengeleimt. (Das erste Blatt, auf dem man den Inhalt der Rolle notieren konnte, hieß auf griechisch protokollon, wörtlich »zuerst geklebt« – der Ursprung unseres Wortes »Protokoll«.) Hölzerne Stäbe, die an einem oder beiden Enden des langen Papyrusbands befestigt wurden und oben und unten leicht darüber ragten, erleichterten das Ab- und Aufrollen des Papyrusstreifens beim Lesen. In der antiken Welt war Lesen also das Abrollen eines Textes. Die Römer nannten einen solchen Stab umbilicus, und für das Durchlesen eines Buches von Anfang bis Ende hatte man den Ausdruck »aufrollen bis zum umbilicus«.
Zunächst weiß und schmiegsam, wurde Papyrus im Lauf der Zeit spröde und bleichte nach – nichts währt ewig –, aber es war leicht, bequem zu handhaben, einigermaßen preiswert und trotz allem erstaunlich haltbar. Kleine Grundbesitzer in Ägypten hatten vor langer Zeit erkannt, dass sie ihre Steuerrechnungen auf einem Stück Papyrus festhalten und davon ausgehen konnten, dass diese Aufzeichnung für Jahre, ja noch für kommende Generationen lesbar bleiben würde.
Priester wiederum konnten diesen Schreibgrund nutzen, um genau festzuhalten, mit welchen Worten man die Götter anflehen und besänftigen musste; Dichter
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