Wende
emporgestiegen waren und sobald ihm der rechte Augenblick gekommen schien, würde Poggio das Gespräch auf den eigentlichen Zweck seines Kommens lenken. Einen Ansatzpunkt hätte ihm Rabanus Maurus bieten können, eine der berühmtesten Gestalten aus Fuldas langer Geschichte, denn von 822 bis 842, zwei Jahrzehnte lang, hatte der Gelehrte als Abt des Fuldaer Klosters fungiert. Als äußerst produktiver Autor hatte er Bibelkommentare, Abhandlungen zur Kirchenlehre, Leitfäden zur Ausbildung von Geistlichen, gelehrte Kompendien und eine Folge überaus schöner Figurengedichte verfasst. 23 Die meisten seiner Werke hätte Poggio sehr leicht in der Vatikanischen Bibliothek einsehen und lesen können, darunter auch die umfangreiche Enzyklopädie, das bekannteste Werk des Rabanus. In zweiundzwanzig Bänden hatte er mit ebenso verblüffender Gelehrsamkeit wie Eintönigkeit das Wissen seiner Zeit zusammengetragen. Titel des Werks war De rerum naturis (Über die Natur der Dinge); Zeitgenossen aber nannten es De universo (Über das Universum), denn dieser Titel schien den umfassenden Anspruch des Buches noch besser zum Ausdruck zu bringen.
Die Schriften dieses Gelehrten aus dem neunten Jahrhundert verkörperten genau den schweren, ungelenken Stil, den Poggio und die Humanisten verachteten. Aber er wusste auch, welch ungeheuer belesener Mann Rabanus Maurus gewesen war, in heidnischer Literatur ebenso zuhause wie in der christlichen; Rabanus hatte die Fuldaer Klosterschule zur bedeutendsten in Deutschland gemacht. Wie alle Schulen brauchte auch die zu Fulda Bücher, und Rabanus hatte diesen Bedarf gedeckt, indem er die Klosterbibliothek großzügig erweitert hatte. Als junger Mann hatte Rabanus bei Alkuin, dem größten Gelehrten der Zeit Karls des Großen, studiert, also wusste er, wie er sich bedeutende Handschriften verschaffen konnte. Er ließ sie nach Fulda bringen, wo er eine große Gruppe Schreiber ausgebildet hat, die sie dann kopierten. Und auf diese Weise hatte er eine für seine Zeit gewaltige Sammlung aufgebaut.
Das lag sechshundert Jahre zurück, in einer aus Sicht eines Bücherjägers außerordentlich günstigen Zeit. Sie lag so weit in der Vergangenheit, dass die Verbindungen zu einer noch weiter zurückliegenden Epoche aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht abgerissen waren. Und der schrittweise, über Jahrhunderte sich hinziehende Verfall der intellektuellen
Bedeutung des Klosters erhöhte die Spannung noch. Wer wollte wissen, was in den Regalen stand, möglicherweise seit Jahrhunderten unberührt? Sehr gut hätten Handschriften, die den langen Albtraum von Chaos und Zerstörung, der mit dem Ende des Römischen Reiches einsetzte, zerfleddert überstanden hatten, den Weg ins entlegene Fulda finden können. Mochten Rabanus’ Mönche die Gesten des Kratzens und Würgens gemacht haben, so mussten sie doch die heidnischen Bücher kopieren, die man ihnen auftrug. Und warum sollten diese Kopien, seither in Vergessenheit geraten, nicht auf den wiederbelebenden Griff des Humanisten warten?
Das jedenfalls wird Poggios heiße Hoffnung gewesen sein, 1417 in Fulda oder wo sonst er sich befand, und sein Puls wird sich beschleunigt haben, als ihn der leitende Klosterbibliothekar schließlich in den großen gewölbten Raum geführt und ihm einen Band gezeigt hat, der mit einer Kette am Pult des Bibliothekars befestigt war: den Katalog. Und während er durch die Seiten blätterte, deutete Poggio – die Regel der Stille war auch von ihm strikt einzuhalten – auf die Titel, die er zu sehen wünschte.
Wahres Interesse, aber auch ein gewisses Taktgefühl könnte Poggio dazu veranlasst haben, zunächst um weniger bekannte Schriften von Tertullian zu bitten, einem der Großen unter den Kirchenvätern. Dann aber, nachdem ihm dieser Band an sein Pult gebracht worden war, muss er sich wohl mit wachsender Spannung auf eine Reihe antiker römischer Autoren gestürzt haben, die ihm und auch seinen humanistischen Kollegen völlig unbekannt waren. Poggio hat zwar in keinem Brief davon berichtet, wohin er gezogen war, was er am unbekannten Ort jedoch gefunden hatte, das gab er nicht nur bekannt, er trompetete es gleichsam in die Humanistenwelt. Denn nun war ihm widerfahren, wovon alle Bücherjäger träumten.
Zunächst schlug er ein episches Gedicht auf, das in rund vierzehntausend Versen über die Kriege zwischen Rom und Karthago berichtete. Poggio könnte den Namen des Autors gekannt haben, Silius Italicus, auch wenn bis zu diesem
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