Wende
Augenblick keines seiner Werke wieder aufgetaucht war. Silius, ein durchtriebener Politiker und gerissener skrupelloser Redner, hatte es tatsächlich geschafft, drei mörderische Regenten und ihre Herrschaft zu überleben: Caligula, Nero und Domitian. In einem »ehrenwerten Ruhestand«, so hat Plinius der Jüngere mit weltläufiger Ironie geschrieben, habe er den »Makel seiner früheren Tätigkeit ... ausgelöscht«. 24
Nun waren Poggio und seine Freunde in der Lage, eine Frucht dieser Muße zu retten.
Er schlug ein zweites Langgedicht auf, geschrieben von Marcus Manilius, dessen Namen der Bücherjäger nicht wiedererkannt haben kann, denn Manilius taucht bei keinem der überlieferten antiken Schriftsteller auf. Wie Poggio gewiss sofort sah, handelte es sich um eine Schrift zur Astronomie; wie Stil und Anspielungen des Dichters dem Kenner zeigten, war sie zu Beginn des Kaiserreichs entstanden, zur Zeit der Herrschaft von Augustus oder Tiberius.
Weitere Geister aus Roms Vergangenheit tauchten auf. Ein Kritiker, der zu Neros Zeiten Glossen zu klassischen Autoren veröffentlicht hat; ein anderer, der ausführlich aus Werken verschollener Epiker zitierte, die Homer imitiert haben; ein Grammatiker, dessen Abhandlung zur Orthographie, wie Poggio wusste, ganz nach dem Geschmack seiner lateinbegeisterten Freunde in Florenz war. Bei einer weiteren Handschrift wird sich möglicherweise ein Schuss Melancholie in die Entdeckerfreude gemischt haben: Gemeint ist ein umfangreiches Fragment einer bis dahin unbekannten Geschichte des Römischen Reiches, verfasst von Ammianus Marcellinus, einem hohen Offizier der kaiserlichen Armee. Poggio kopierte dieses Werk, wobei ihn nicht nur der Umstand betrübt haben wird, dass die ersten dreizehn der insgesamt einunddreißig Bücher der Handschrift fehlten – sie sollten auch später nicht mehr auftauchen –, sondern auch, dass dieses Buch kurz vor dem Zusammenbruch des Imperiums entstanden ist. Ammianus, ein klarer Kopf, nachdenklich und als Historiker erstaunlich unparteiisch, hat das bevorstehende Ende offenbar kommen sehen. Seine Beschreibung einer Welt, die erschöpft war von erdrückenden Steuern, in der große Teile der Bevölkerung vor dem finanziellen Ruin standen, in der die Moral in der Armee gefährlich zerfiel, zeigte sehr eindrucksvoll, welche Verhältnisse dazu führten, dass die Goten nur zwanzig Jahre nach dem Tod dieses Autors Rom plündern konnten.
Selbst der geringste der Funde, die Poggio machte, war hoch bedeutsam – wobei eigentlich alles, was nach so langer Zeit wieder auftauchte, wunderbar erscheinen musste. Und doch: Alle diese Schriften werden, vielleicht nicht bereits damals, ganz sicher aber aus unserer Perspektive, überstrahlt von der Entdeckung einer Handschrift, die älter war als alle
anderen, die Poggio aufgestöbert hatte. Unter seinen Funden war ein langer Text, verfasst um 50 v.u.Z., und zwar von einem Dichter und Philosophen namens Titus Lucretius Carus. Der Titel der Schrift, De rerum natura, war dem der damals viel gerühmten Enzyklopädie des Rabanus Maurus – De rerum naturis – erstaunlich ähnlich. Die Arbeit des Mönchs jedoch war langweilig und konventionell, das Gedicht des Lukrez dagegen von beängstigender Radikalität.
Poggio wird den Namen Lukrez aus Ovid, Cicero und anderen antiken Quellen gekannt haben, die er zusammen mit seinen Humanistenfreunden so gründlich durchforstet hatte. Doch weder er noch einer der anderen war je auf mehr gestoßen als auf ein, zwei Bruchstücke einer Schrift, die, wie damals jeder wusste, als für immer verloren galt. 25
Poggio wird im zunehmenden Dämmerlicht in der Klosterbibliothek und unter den wachsamen Blicken des Abtes oder seines Bibliothekars nicht die Zeit gehabt haben, mehr zu lesen als die Eingangszeilen. Aber er wird auf der Stelle erkannt haben, von welch erstaunlicher Schönheit Lukrez’ lateinische Verse waren. Er wird dem Schreiber den Auftrag erteilt haben, eine Kopie anzufertigen, um den Text so schnell wie möglich aus dem Kloster zu erlösen. Was wir allerdings nicht wissen, ist, ob er damals ahnte, was er tat: Er befreite ein Buch, das zu gegebener Zeit mit dazu beitragen würde, seine gesamte Welt zum Einsturz zu bringen.
KAPITEL DREI
AUF DER SUCHE NACH LUKREZ
R und eineinhalbtausend Jahre bevor sich Poggio aufmachte, um zu sehen, was er finden konnte, haben Lukrez’ Zeitgenossen dessen Gedicht gelesen, und auch nach seiner Veröffentlichung wurde es über einige
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