Wende
Strafen. »Meinst du, ich sei so verrückt, dass ich solche Märchen glaube?«, fragt der Gefährte zurück. Todesfurcht beziehe sich nicht auf Schicksale wie die von Sisyphus und Tantalus: »Denn wer ist so töricht, dass ihn diese Erzählungen beeindrucken können?« 33 Es gehe, lässt Cicero seine Gesprächspartner herausfinden, um die Furcht vor dem Leiden, vor dem Verschwinden, und es sei schwierig zu verstehen, warum die Epikureer dächten, sie hätten ein Mittel der Linderung anzubieten. Es könne doch kaum stärken und tröstlich sein, wenn man erzählt bekomme, dass man nach dem Tod vollständig und für immer verschwinden werde, die Seele wie der Leib. 34
Anhänger Epikurs reagierten auf dergleichen Einwände mit der Erinnerung an die letzten Tage ihres Meisters, der qualvoll an einem Blasenverschluss gestorben sei und sich gleichwohl die Gelassenheit des Geistes bewahrt habe: durch Erinnerung an alle Freuden, die er in seinem Leben erfahren hatte. Man kann sich schwer vorstellen, dass dies ein Mittel war, das sich ohne weiteres hätte nachahmen lassen – »O, wer kann Feuer in seiner Hand tragen und an den befrornen Caucasus denken?«, heißt es bei Shakespeare in Richard II. Andererseits: Wäre in einer Welt ohne Dolantin oder Morphium ein anderes wirksames Mittel gegen Todesqualen vorstellbar? Nicht Sterbehilfe, was der griechische Philosoph anzubieten hatte, war Lebenshilfe. Erlöst vom Aberglauben, lehrt Epikur, ist man frei, der Lust zu folgen.
Ausgerechnet auf Epikurs Feier von Lebensfreude und Lust zielten seine Gegner, erfanden bösartige Geschichten über sein angeblich ausschweifendes Leben, Geschichten, die sich noch verstärken ließen, weil doch – damals ganz unüblich – zum Kreis seiner Anhänger auch Frauen, nicht nur Männer gehörten. Er »übergab sich zweimal am Tag wegen seiner übermäßigen Schwelgerei«, lesen wir in einer dieser Geschichten, und auch, dass er ein Vermögen ausgegeben habe für seine Feste. 35 In Wahrheit hat dieser Philosoph allem Anschein nach ein bewusst einfaches, frugales Leben geführt. »Schicke mir ein Töpfchen mit Käse«, schrieb er einmal an einen Freund, »damit ich, wenn ich Lust habe, prächtig speisen kann.« Soviel zum Überfluss an seiner Tafel. Ähnliche Genügsamkeit verlangte er
von seinen Schülern. Das Motto über der Tür zu Epikurs Garten lud den Fremdling ein zu verweilen, denn »Hier ist die Lust unser höchstes Bestreben«. Doch dem Philosophen Seneca zufolge, der diese Worte in einem berühmten Brief zitiert – Poggio und seine Freunde kannten diesen Text –, wurde der Passant, wenn er tatsächlich eintrat, mit einem einfachen Mahl aus Gerstengrütze und Wasser bewirtet. 36 In einem der wenigen überlieferten Briefe schreibt Epikur:
Wenn wir also behaupten, daß Lust das höchste Ziel ist, meinen wir nicht die Gelüste des Zügellosen und die Schlemmereien, wie manche Ignoranten, Gegner und Verleumder meinen, sondern Freiheit von Körperschmerz und Seelenstörung. Nicht Saufereien und Orgien am laufenden Band, nicht der Genuß von Knaben und Frauen, von Fischen und was eine luxuriöse Tafel sonst noch bietet, macht das lustvolle Leben aus, sondern das nüchterne Nachdenken, das die Gründe für alles Wählen und Meiden ermittelt ... 37
Niemals, so Epikur, könne der fieberhafte Versuch, gewisse Begierden zu befriedigen, zu dem Frieden des Geistes führen, der Schlüssel ist zu dauerhafter Lebensfreude.
»Menschen erleiden die schlimmsten Übel, nur um die fremdesten Begierden zu befriedigen«, heißt es in einem der Texte von Epikurs Schüler Philodemus, die in der Bibliothek von Herculaneum gefunden wurden, und: »Sie vernachlässigen die notwendigsten Bedürfnisse, als seien sie der Natur völlig entfremdet.« Und Philodemus bestimmt diese notwendigen Bedürfnisse näher: Es sei unmöglich, schreibt er, ein angenehmes Leben zu führen, »ohne klug und ehrenwert und gerecht zu leben, ohne dass man mutig und mäßig und großmütig lebt, ohne Freunde zu haben und ohne wohltätig zu sein«. 38
Hier spricht ein verbürgter Anhänger Epikurs, eine Stimme, die erst in modernen Zeiten auf einer vulkangeschwärzten Papyrusrolle entdeckt wurde. Was sie zu sagen hat, ist kaum das, was jemand, der mit dem Begriff »Epikureismus« vertraut ist, zu hören erwartet. In einer seiner unvergesslichen satirischen Grotesken hat Shakespeares Zeitgenosse Ben Jonson treffend festgehalten, in welchem Geist Epikurs Philosophie
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