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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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und philosophischen Fragen zugewandt, die beunruhigender waren: Was sind die Ursachen von Donner, Erdbeben oder Sonnenfinsternissen – sind sie Zeichen der Götter, wie manche behaupten, oder haben sie ihren Ursprung in der Natur? Können wir die Welt, in der wir leben, wirklich verstehen, und wie kann das gelingen? Welche Ziele sollten wir in unserem Leben verfolgen? Ist es sinnvoll, sein Leben dem Erwerb von Macht zu widmen? Wie können das Gute und das Böse definiert werden? Was geschieht mit uns, wenn wir sterben?
    Dass der mächtige Eigentümer der Villa und seine Freunde Vergnügen daran fanden, sich mit solchen Fragen herumzuschlagen, und auch bereit waren, dem, obwohl sie ein sehr geschäftiges Leben führten, beträchtlich Zeit zu widmen, um schließlich mögliche Antworten herauszukitzeln, spiegelt ihre Vorstellungen davon, wie Menschen ihrer Bildung, ihrer Klasse und ihres Status ihr Leben angemessen zu verbringen hätten. Es spiegelt auch etwas, das an der geistigen und spirituellen Welt, in der sie lebten, außergewöhnlich war; etwas, das der französische Romancier Gustave Flaubert in einem seiner Briefe so formuliert hat: »Da es die Götter nicht mehr und Christus noch nicht gab, bestand von Cicero bis Marc Aurel ein einzigartiger Augenblick, in dem allein der Mensch war.« 29 Das könnte kleinliche Einwände provozieren. Für viele Römer jedenfalls
hatten die Götter noch keineswegs aufgehört zu existieren – selbst die Epikureer, die manche für Atheisten halten, dachten, dass Götter existierten, allerdings den Angelegenheiten der Sterblichen weit entrückt –, und der »einzigartige Augenblick«, auf den Flaubert verweist und der seiner Meinung nach von Cicero (106–43 v.u.Z.) bis MarcAurel (121–180 u.Z.) reichte, könnte länger oder ebenso gut auch kürzer gewesen sein. Doch der Kern von Flauberts Argument wird in Ciceros Dialogen und in den Schriften redegewandt entwickelt, wie sie in der Bibliothek von Herculaneum zu finden waren. Für viele der frühen Leser dieser Schriften gab es offenbar kein festes Repertoire an Glaubensinhalten und Praktiken mehr, die Rückhalt in etwas gehabt hätten, das als Wille der Götter galt. Das Leben dieser Männer und Frauen war erstaunlich frei von solchen Diktaten der Götter (oder ihrer Priester). Tatsächlich fanden sie sich, so wie Flaubert das sieht, auf sich selbst gestellt, in der merkwürdigen Lage, zwischen deutlich voneinander abweichenden Vorstellungen vom Wesen der Dinge, auch zwischen konkurrierenden Lebensentwürfen wählen zu können oder gar zu müssen.
    Die verkohlten Fragmente aus der Bibliothek vermitteln uns einen kleinen Einblick in die Art, in der Menschen aus dem Milieu der Villa ihre Wahl trafen: Wir sehen ihre Vorlieben beim Lesen, damit auch, worüber sie wahrscheinlich diskutierten, sehen die Personen, die sie möglicherweise zu ihren Gesprächen geladen haben. Und an dieser Stelle dann bekommen die winzigen, vom norwegischen Papyrologen zugeordneten Fragmente doch einen Kontext, geraten ins Mitschwingen. Lukrez war Zeitgenosse des Philodemus und, was wichtiger ist, von Philodemus’ Mäzen. Warum sollte dieser, wenn er Freunde für einen Nachmittag zu sich an die grünen Hänge des Vulkans lud, mit ihnen gemeinsam nicht auch Passagen aus De rerum natura gelesen haben? Vielleicht hätte der reiche Gönner mit philosophischen Interessen auch den Wunsch gehabt, den Autor Lukrez persönlich kennen zu lernen. Es wäre keine große Sache für ihn gewesen, ein paar Sklaven und eine Sänfte zu schicken, um Lukrez nach Herculaneum und in den Kreis der Gäste zu bringen. Und so können wir uns immerhin vorstellen, dass Lukrez, entspannt zurückgelehnt auf einer Liege, selbst aus der Handschrift vorgelesen hat, deren Fragmente erhalten geblieben sind.

    Hätte Lukrez an den Gesprächen in der Villa teilgenommen, dann können wir uns durchaus vorstellen, was er gesagt haben wird. Seine Schlüsse werden nicht, in der Art Ciceros, uneindeutig gewesen sein, auch nicht von Skeptizismus gefärbt. Die Antwort auf alle eure Fragen, wird er seinen Zuhörern leidenschaftlich zugerufen haben, sind im Werk eines Mannes zu finden, dessen Porträtbüste und Schriften die Bibliothek der Villa schmückten: im Werk des Philosophen Epikur.
    Er allein, so heißt es in Lukrez’ Gedicht, konnte den miserablen Zustand eines Mannes lindern, der, zuhause zu Tode gelangweilt, verzweifelt das Weite sucht, auf seinen Landsitz eilt, nur um festzustellen,

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