Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
Vom Netzwerk:
er eine Schule gründen konnte. Dort, in einem Garten in Athen, entwarf Epikur eine vollständige Darstellung des Universums und entwickelte eine Philosophie des menschlichen Lebens.
    Unaufhörlich in Bewegung, so Epikurs Überlegung, stoßen die Atome aufeinander, und unter bestimmten Bedingungen verbinden sich viele einzelne zu immer größeren Körpern. Die größten unter den sichtbaren sind Sonne und Mond, und auch sie bestehen aus Atomen, nicht anders als Menschen und Wasserfliegen und Sandkörner. Es gibt keine Oberbegriffe der Materie, keine Hierarchie der Elemente. Die Himmelskörper sind keine göttlichen Wesen, die unser Geschick nach Gut und Böse bestimmen, sie bewegen sich auch nicht durch den leeren Raum, weil und indem Götter sie lenken: Sie sind Teil der natürlichen Ordnung, mehr nicht, zwar ungeheuer groß, aber Gebilde aus Atomen und als solche den gleichen Prinzipien des Werdens und Vergehens unterworfen, die auch alles andere, was existiert, regieren. Mag die Ordnung der Natur noch so unvorstellbar riesig und komplex sein, so ist es dennoch möglich, etwas von ihren konstitutiven Grundelementen sowie von den Gesetzen zu erkennen, die sie regieren und die universell gültig sind, für alles Seiende überall, im Himmel wie auf der Erde. Und wer zu dieser Erkenntnis gelangt, sagt Epikur, der wird der tiefsten Freuden des menschlichen Lebens inne.
    Lebensfreude durch Genuss, dies ist vielleicht der Schlüssel zum Verständnis der mächtigen Wirkung der epikureischen Philosophie. 32 Es war, als habe er eine für seine Nachfolger nie versiegende Quelle der Belohnung entdeckt, die sich in Demokrits Atomtheorie verbarg. Für uns ist diese Wirkung schwerer zu verstehen. Zum einen wirkt Epikurs Prinzip der Lebensfreude und Lust zu intellektuell, als dass es mehr als eine dünne Schicht von Spezialisten erreichen könnte; zum anderen verbinden wir mit »Atom« viel eher Furcht als Belohnung. Doch obwohl die antike Philosophie kaum eine Massenbewegung war, hat Epikur offenbar mehr angeboten als Kaviar für eine Handvoll Teilchenphysiker. Tatsächlich lehnte er die
spezialisierte Sprache eines eingeweihten Kreises von Schülern und ihre Selbstbezüglichkeit ab und bestand darauf, für Philosophisches die Alltagssprache zu nutzen, um so den größtmöglichen Kreis von Zuhörern zu erreichen; Epikur ging es durchaus auch darum, die Menschen zu bekehren. Wobei die Aufklärung, die er bot, keine gründlichen wissenschaftlichen Forschungen erforderte. Man musste keine detaillierte Vorstellung von den tatsächlichen Gesetzen des physischen Universums haben, es genügte, sich klarzumachen, dass es eine verborgene natürliche Erklärung für alles gibt, was uns erschreckt oder unfassbar bleibt. Diese Erklärung führt unweigerlich zurück zu den Atomen. Wer sich an die einfachste Tatsache der Existenz hält und sich diese immer wieder vor Augen führt – nämlich: es gibt nur Atome und leeren Raum und sonst gar nichts, Atome und leeren Raum und sonst gar nichts –, dessen Leben wird sich nachhaltig verändern. Wer so denkt, muss, sobald er den Donner rollen hört, nicht länger Jupiters Zorn fürchten, ebenso wenig, wenn irgendwo eine Grippewelle ausbricht, befürchten, irgendwer könnte Apollo verletzt haben. Wer so denkt, wird sich befreien von der quälenden Angst, die Hamlet, Jahrhunderte später, beschrieben hat:
    Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod –
Das unentdeckte Land, von des Bezirk
Kein Wandrer wiederkehrt – den Willen irrt ...
    (Hamlet, III:1)
    Die meisten Männer und Frauen unserer Tage drückt diese Qual – die Furcht, in einem Reich jenseits des Grabes könnte eine entsetzliche Strafe auf uns warten – nicht mehr nieder, im antiken Athen zur Zeit Epikurs und im Rom des Lukrez war das offensichtlich anders; auch die christliche Welt des Poggio kannte diese Qual. Gewiss hatte Poggio die Bilder solcher Schrecken gesehen, in frommer Hingabe ins Tympanon über einem Kirchenportal gemeißelt, im Inneren der Kirche als Fresko an die Wand gemalt. Solche Schrecken wiederum wurden den Berichten nachgebildet, die die heidnische Imagination vom Jenseits entworfen hatte. Natürlich hat auch in diesen Zeiten nicht jeder Mensch, ob heidnisch oder christlich, an solche Berichte geglaubt. In einem ciceronischen Dialog fragt einer der
Gesprächspartner sein Gegenüber, ob er sich nicht fürchte vor der Unterwelt, dem fürchterlichen Hund mit den drei Köpfen, dem schwarzen Fluss, den abscheulichen

Weitere Kostenlose Bücher