Wende
dass sein Geist dort auch nicht weniger bedrückt ist. Tatsächlich war Epikur, der zwei Jahrhunderte zuvor gestorben war, in Lukrez’ Verständnis nicht weniger als ein Erlöser. So heißt es in der Prosafassung On the Nature of Things: »Als das Leben der Menschen schmachvoll in den Staub gedrückt daniederlag, gebeugt unter der Last des Aberglaubens«, 30 da sei ein verwegener Mann gekommen, der zum Ersten wurde, der »kühn sich jenem entgegenstemmte« (I:62ff.). Dieser Held – der so gar nicht der römischen Heldenkultur entsprach, die sich traditionell mit Zähigkeit, Pragmatismus und militärischen Tugenden brüstete – war ein Grieche. Und er triumphierte nicht mit der Gewalt der Waffen, sondern mit der Kraft seines Geistes.
De rerum natura ist das Werk eines Schülers, der Ideen weitervermittelt, die Jahrhunderte zuvor entwickelt wurden. Epikur, Lukrez’ philosophischer Messias, wurde gegen Ende des Jahres 342 v.u.Z. auf der ägäischen Insel Samos geboren, wohin sein Vater, ein armer Schulmeister aus Athen, als Kolonist ausgewandert war. 31 Viele griechische Philosophen, Platon und Aristoteles eingeschlossen, stammten aus reichen Familien und rühmten sich ihrer aristokratischen Vorfahren. Solche Ansprüche konnte Epikur entschieden nicht anmelden. Seine philosophischen Gegner, die sich in ihrer gesellschaftlich höheren Stellung sonnten, haben immer wieder mit Epikurs bescheidener Herkunft argumentiert; das heißt, sie rümpften die Nase über einen Philosophen, der seinem Vater beim Elementarunterricht zur Hand gegangen ist und mit seiner Mutter von Hütte zu Hütte zog und Sühnegebete vortrug. Einer seiner Brüder sei gar
Zuhälter gewesen und habe mit einer Prostituierten gelebt. Kurz: So einer konnte kein Philosoph sein, mit dem anständige Menschen etwas hätten zu tun haben mögen.
Dass Lukrez und viele andere sehr viel weiter gingen, als sich mit Epikur zu befassen – dass sie ihn mit seinem Wissen und Mut als gottähnlich feierten –, hatte nichts mit seinen gesellschaftlichen Qualifikationen zu tun, sondern mit dem, was sie als erlösende Kraft seiner Weltsicht betrachteten. Deren Kerngedanke lässt sich zurückverfolgen auf eine einzige, hell strahlende Idee: Alles, was je existiert hat, und auch alles, was jemals existieren wird, setzt sich zusammen aus unvergänglichen Bausteinen, irreduzibel klein in der Größe, unvorstellbar viel an der Zahl. Die Griechen hatten ein Wort für diese unsichtbaren Bausteine, sie nannten, was sich nicht weiter teilen ließ, atomos.
Die Vorstellung von Atomen, die auf Leukipp von Abdera, der im fünften Jahrhundert v.u.Z. lebte, und auf dessen Meisterschüler Demokrit (um 460/59 bis 400/380 v.u.Z.) zurückgeht, war eine verwirrende, eine umwerfende Spekulation. Denn es gab dafür keinerlei empirischen Beweis, und das sollte noch über zweitausend Jahre so bleiben. Andere Philosophen entwickelten konkurrierende Theorien über den Aufbau der Welt. Einigen zufolge war der Grundstoff der Welt Feuer oder Wasser, Luft oder Erde, andere sahen die Dinge aus Kombinationen dieser vier Grundelemente entstehen. Könnte man das kleinste Partikel eines Menschen wahrnehmen, dann, so behaupteten wieder andere, würde man einen unendlich kleinen Menschen sehen; das Gleiche bei einem Pferd, einem Wassertropfen oder einem Grashalm. Wieder andere erklärten, die dem Universum eigentümliche Ordnung sei der Beweis für einen unsichtbaren Geist, der die einzelnen Teile einem vorgefertigten Plan entsprechend zusammenfüge. Demokrits Konzept einer unendlichen Zahl von Atomen, die außer Größe, Gestalt und Gewicht keine weiteren Eigenschaften mehr besitzen – Teilchen also, die keine Miniaturausgaben dessen sind, was wir sehen, die vielmehr das, was wir sehen, formen, indem sie sich zu einer unerschöpflichen Vielfalt von Gestalten verbinden –, dieses Konzept war eine enorm mutige Lösung eines Problems, das die großen Geister zu Epikurs Zeit beschäftigte.
Es dauerte Generationen, bis alle Implikationen dieser Lösung durchdacht waren. (Auch wir haben noch keineswegs alle erfasst.) Epikur selbst
hat als Zwölfjähriger damit begonnen, nachdem er entsetzt festgestellt hatte, dass ihm seine Lehrer nicht erklären konnten, was das Chaos sei. Demokrits alte Vorstellung von Atomen erschien ihm als der vielversprechendste Schlüssel, und er machte sich daran, diesem zu folgen, wohin immer das führen würde. Im Alter von zweiunddreißig Jahren war er so weit, dass
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