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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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Europa und ihr Gefolge, alle mit dem Ziel der kleinen Stadt im Süden Deutschlands.
    Ulrich von Richental, ein Bürger von Konstanz, war so fasziniert von dem, was um ihn herum vorging, dass er eine umständliche Chronik der Ereignisse verfasste. 6 Von ihm wissen wir, dass der Papst die Alpen mit einem gewaltigen Tross überquerte, um die sechshundert Mann begleiteten ihn. Diesem Gefolge, das wissen wir aus anderen Quellen, gehörten – zumindest zeitweise – die größten Humanisten der Zeit an: Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni, Pier Paolo Vergerio, Cencio Rustici, Bartolomeo Aragazzi da Montepulciano, Zomino (Sozomeno) da Pistoia, Benedetto da Piglio, Biagio Guasconi, Cardinals Francesco Zabarella, Alamano Adimari, Branda da Castiglione, Bartolomeo della Capra, der Erzbischof von Mailand, und sein künftiger Nachfolger Francesco Pizzolpasso. 7 Der Papst war ein Schurke, aber einer mit Bildung, der die Gesellschaft ausgezeichneter Gelehrter zu schätzen wusste und hoffte, die Angelegenheiten des Hofes ließen sich in bestem humanistischem Stil regeln.
    Eine Reise über die Alpen war damals zu keiner Jahreszeit einfach, auch im Spätsommer nicht. Einmal kippte die päpstliche Kutsche um und warf den Papst in den Schnee. Als er, im Oktober 1414, endlich auf Konstanz und den See herabblickte, wandte er sich an sein Gefolge – zu dem, natürlich, auch Poggio gehörte – und sagte: »Hier also fängt man Füchse.«
    Hätte er es nur mit den rivalisierenden Fraktionen innerhalb der italienischen Kirche zu tun gehabt, hätte Cossa zuversichtlicher sein können, dass er dieser Fuchsfalle entrinnen würde, immerhin hatte er einige Jahre die Oberhand gehabt und sich zumindest halten können auf dem päpstlichen
Thron in Rom. Nun aber strömten aus der gesamten christlichen Welt andere nach Konstanz, viele standen weder unter seiner Patronage, noch hatte er sie in Reichweite seines Giftes: um die dreißig Kardinäle, drei Patriarchen, dreiunddreißig Erzbischöfe, einhundert Äbte, fünfzig Provoste (kirchliche Beamte), dreihundert Doktoren der Theologie, fünftausend Mönche und Klosterbrüder und ungefähr achtzehntausend Priester. Auch der Kaiser kam mit großem Gefolge, und auf seine Einladung viele andere weltliche Herrscher und ihre Repräsentanten: die Kurfürsten Ludwig von der Pfalz und Rudolph von Sachsen, die Herzöge von Bayern, Österreich, Sachsen, Schleswig, Mecklenburg, Lothringen und Teck, der Markgraf von Brandenburg, Gesandte der Könige von Frankreich, England, Schottland, Dänemark, Polen, Neapel und der spanischen Reiche; dazu eine große Schar niederer Adliger, Barone, Ritter; außerdem noch Anwälte, Professoren und hohe Beamte. Und jeder dieser Herren ließ sich begleiten von Dienstleuten, Wachen, Dienern, Köchen und so weiter. Diese spektakuläre Versammlung nun zog ihrerseits zusätzliche Horden von Zuschauern, Händlern, Quacksalbern, Goldschmieden, Schuhmachern, Apothekern, Kürschnern, Krämern, Barbieren, Schreibern, Jongleuren, Akrobaten, Bänkelsängern samt Herumtreibern aller Art an. Chronist Richental schätzt, dass allein siebenhundert Huren in die Stadt kamen, »die selb hüser gemiet hattend und in den stälen lagen und was sy mochten ... on (ohne) die heimlichen, die laß ich belieben (von denen rede ich hier nicht).« 8
    Die Ankunft dieser Besucher, alles in allem zwischen fünfzig- und hundertfünfzigtausend Menschen, waren eine große Belastung für die Stadt und führten natürlich zu allerhand Übergriffen. Stadtbeamte versuchten der Verbrechen auf übliche Weise – mit öffentlichen Hinrichtungen – 9 Herr zu werden; sie erließen zudem Vorschriften über Umfang und Qualität der Dienste, mit denen die Besucher rechnen konnten, zum Beispiel durfte ein Bett an höchstens zwei Schläfer vermietet werden, zu einem halben rheinischen Gulden den Monat: »Unt sollt aber der hußwirt linlachen (Leinenlaken) geben, pfulwen (Federbett), küssi (Kissen), allweg zum Monat nüw gewaschen.« 10 Die Ernährung der Besucher (und ihrer dreißigtausend Pferde) war ein permanentes Problem, doch war die Region gut versorgt, und die Flüsse ermöglichten es, die Vorräte heranzuschaffen.
Bäcker hatten Öfen auf Karren montiert und zogen durch die Straßen, boten Brötchen, Bretzeln und Pasteten an, die mit gewürztem Huhn und anderem Fleisch gefüllt waren. In Gasthäusern und Garküchen, die in improvisierten Buden und Zelten eingerichtet wurden, bereiteten Köche das übliche Fleisch

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