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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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offenbar ohne Begleitung. Sein wildes Bestreben, welche edlen eingesperrten Wesen auch immer zu entdecken und aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, hatte sich offenbar verstärkt. Er hatte keine Vorstellung, was er finden würde; er wusste nur, dass dessen Rettung jeden Preis wert war, wenn es denn etwas Antikes war und in elegantem Latein verfasst. Die Mönche, denen er alles zutraute, sperrten unwissend und gleichgültig Spuren einer Kultur weg, die weitaus größer war als alles, was die Welt seit tausend Jahren gesehen hatte.
    Es waren Stücke von Pergament, mehr nicht, was zu finden er hoffen konnte, und es waren noch nicht einmal sehr alte. Doch für ihn waren das
keine Handschriften, es waren menschliche Stimmen. Was aus dem Dunkel einer Bibliothek hervortrat, war kein Glied in einer langen Kette von Texten, einer vom anderen abgeschrieben, sondern es war die Sache selbst in geborgten Kleidern, möglicherweise sogar der Autor selbst, in Leichentücher gehüllt ins Helle taumelnd.
    »Wir akzeptieren, dass Äskulap zu den Göttern gehört, weil er neben anderen auch Hippolyt aus der Unterwelt zurückgeholt hat«, schrieb Francesco Barbaro an Poggio, als er von dessen Funden erfahren hatte:
    Wenn ihm einzelne Menschen, Nationen und Provinzen Heiligtümer geweiht haben, was müsste man, frage ich mich, für dich tun, wenn dieser Brauch nicht längst vergessen wäre? Du hast so viele berühmte und weise Männer wiederbelebt, Männer, die Ewigkeiten tot waren, durch deren Geist und Lehren nun nicht nur wir, sondern auch unsere Nachkommen gut und ehrenvoll werden leben können. 28
    Bücher, die nicht länger von Hand zu Hand gingen, die in deutschen Bibliotheken hockten, transfigurieren hier zu weisen Männern, die gestorben waren und deren Seelen in der Unterwelt gefangen saßen. Ein zynischer apostolischer Sekretär im Dienst des berühmt-berüchtigten Papstes – unter seinen Freunden aber galt Poggio als Held der Kultur, als magischer Heiler, der es verstand, den zerrissenen und geschundenen Leib der Antike zusammenzufügen und zu neuem Leben zu erwecken.
    So kam es, dass sich Poggio im Januar 1417 erneut in einer Klosterbibliothek wiederfand, vermutlich in Fulda. Dort nahm er ein langes Gedicht aus dem Regal, an dessen Autor er sich vielleicht erinnerte, hatte er dessen Namen und den seines Werkes doch bei Quintilian oder in der Chronik gelesen, die der heilige Hieronymus zusammengetragen hatte: T. LUCRETI CARI DE RERUM NATURA.

KAPITEL ACHT
WIE DIE DINGE SIND
    D e rerum natura – Von der Natur ist keine leichte Lektüre. Das Poem umfasst siebzehntausendvierhundert Verse im Maß des Hexameters – der normale ungereimte sechshebige Vers, in den römische Dichter wie Vergil oder Ovid ihre Dichtungen gossen, Homers Griechisch imitierend. Das große Gedicht, unterteilt in sechs Bücher ohne Titel, verbindet Momente intensiver lyrischer Schönheit mit philosophischen Meditationen über Religion, Lust und Tod, mit komplexen Theorien zur natürlichen Welt, zur Entwicklung menschlicher Gesellschaften, zu Freuden und Gefahren der geschlechtlichen Liebe und zum Wesen der Krankheit. Die Sprache ist häufig verwickelt und schwierig, die Syntax komplex und der intellektuelle Anspruch insgesamt erstaunlich hoch.
    Das waren Schwierigkeiten, die Poggio und seine gebildeten Freunde kaum schrecken konnten. Sie verfügten über ein wundervolles Latein, liebten es, komplexe Textprobleme zu lösen, und hatten sich häufig mit Interesse und Vergnügen in das noch undurchdringlichere Dickicht der patristischen Theologie begeben. Ein rascher Blick auf die ersten Seiten des Manuskripts genügte denn auch, um Poggio davon zu überzeugen, dass er einen bemerkenswerten Fund gemacht hatte.
    Eines allerdings konnte er ohne sorgfältige Lektüre, ohne gründliche Aufnahme der Argumente gar nicht erfassen: Er war im Begriff, ein Werk in die Welt zu entlassen, das sein gesamtes geistiges Universum in Frage stellte. Und wenn er dieses Risiko erkannt hätte? Er hätte wohl auch dann nicht gezögert, das Gedicht in Umlauf zu bringen: Das Wiederentdecken verlorener Spuren der antiken Welt war sein oberster Lebenszweck, das wohl einzige Prinzip, das nicht vergiftet war von Desillusionierung und zynischem Gelächter. Und was er tat, hätte er durchaus mit den Worten
kommentieren können, die Sigmund Freud zu C. G. Jung gesagt haben soll, als sie in den Hafen von New York einliefen, um die Lobeshymnen ihrer amerikanischen Bewunderer zu empfangen:

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