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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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heute, machen jeden Tag zu einem Feste.
    Er beschreibe ihm die Badeszenen, teilt er dem Freund mit, damit dieser »aus einigen Beispielen verstehen möge, welch großartiges Zentrum der epikureischen Weise zu denken dies ist«. 23

    In diesen kontrastierenden Bildern ängstlicher, von der Arbeit besessener und überdisziplinierter Italiener und sorglos unbekümmerter Deutscher glaubte Poggio für einen Moment das epikureisch höchste Gut, das Streben nach Lust, erblickt zu haben. Er wusste nur zu gut, dass dieses Streben der christlichen Lehre zuwiderlief. Doch in Baden muss ihm gewesen sein, als finde er sich an der Schwelle zu einem Leben, in dem christliche Regeln nicht länger zählten. Lesend hatte Poggio häufig an dieser Schwelle gestanden. Er hat nie aufgehört, nach verlorenen antiken Texten zu suchen. Einer Bemerkung Niccolis zufolge hat er auch ein Stück seiner Konstanzer Zeit damit verbracht, Bibliothekssammlungen durchzusehen – im Kloster St. Markus hat er dann wohl auch einen antiken Vergil-Kommentar gefunden. 24 Anfang Sommer 1415, vermutlich kurz nachdem sein Herr abgesetzt worden war und er nun definitiv ohne Arbeit und Posten dastand, machte er sich auf den Weg ins französische Cluny, wo er einen Kodex mit sechs Reden Ciceros entdeckte, von denen zwei damals noch unbekannt waren. Er schickte diese kostbare Handschrift an seine Freunde nach Florenz, fertigte auch mit eigener Hand eine Kopie an, versehen mit einer Bemerkung, die seine Stimmung sehr genau erkennen lässt:
    Diese sieben Reden des Marcus Tullius waren durch die Schuld der Zeit in Italien verloren. Mit großer Sorgfalt und Umsicht, durch wiederholtes Suchen in den Bibliotheken in Frankreich und Deutschland ist es allein Poggius dem Florentiner gelungen, sie aus dem elenden Dreck, in dem sie verborgen lagen, zurück ans Tageslicht zu bringen, sie ihrer makellosen Würde und Ordnung zurückzugeben und den lateinischen Musen wieder anzuvertrauen. 25
    Als er diese Worte schrieb, fiel die Welt rund um Poggio in Scherben, doch auch diesmal kannte er nur eine Antwort auf Chaos und Furcht: Noch intensiver tauchte er ein in die Welt der Bücher. Im Zauberkreis seiner Bibliomanie konnte er immerhin das gefährdete Erbe einer glorreichen Vergangenheit vor den Barbaren retten und seinen rechtmäßigen Erben zurückerstatten.
    Ein Jahr später, im Sommer 1416, nach der Hinrichtung des Hieronymus von Prag und kurz nach dem Zwischenspiel in Baden war Poggio
erneut auf Bücherjagd, diesmal in Begleitung zweier italienischer Freunde. Gemeinsam besuchten sie das Kloster St. Gallen, gut vierzig Kilometer von Konstanz entfernt. Es war nicht die einzigartige Architektur der großen mittelalterlichen Abtei, die die Besucher anzog, es war die Bibliothek. Unglaubliches hatten Poggio und seine Freunde von ihr gehört. Und wurden nicht enttäuscht: Ein paar Monate später schrieb Poggio an einen in Italien gebliebenen Freund einen triumphierenden Brief mit der Meldung, er habe einen Schatz antiker Bücher gefunden. Dessen Krönung war der komplette Text von Quintilians Institutio oratoria, das bedeutendste römische Handbuch der Redekunst und Rhetorik. Poggio und sein Kreis kannten diesen Text bislang nur in Fragmenten. Die Entdeckung des Ganzen war etwas höchst Aufregendes – »Oh wunderbarer Schatz! Oh unerwartete Freude!«, brach es aus einem von ihnen heraus –, denn dieser Text brachte ihnen auch eine ganze Welt zurück: eine, die mittels öffentlicher Rede zu überzeugen war.
    Es war ein Traum, eine Zuhörerschaft durch Redegewandtheit und die Macht öffentlicher Worte überzeugen zu können; dieser Traum hatte Hus und Hieronymus von Prag nach Konstanz gelockt. Hus war niedergebrüllt worden, doch Hieronymus, den man aus dem elenden Verlies, in dem er 350 Tage angekettet war, herausgeholt hatte, war es zumindest gelungen, sich Gehör zu verschaffen. Für einen modernen Leser dürfte Poggios Bewunderung für Hieronymus’ »Wahl der Worte« und die Wirksamkeit seiner »Schlussworte« etwas nahezu Absurdes haben – als wäre es um nichts anderes als um das Latein des Gefangenen und dessen Qualität gegangen. Aber genau das, die Vollkommenheit, mit der dieser gequälte Mann sich des Lateinischen bedient hatte, hatte Poggio so durcheinandergebracht, dass er an der Gültigkeit der Vorwürfe zu zweifeln begann, die gegen den Ketzer erhoben wurden. Es gelang Poggio nicht, zumindest nicht in diesem höllischen Augenblick, weiter vor sich selbst zu

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