Wende
verbergen, welche Spannung sich zwischen dem Bürokraten, der für den Finsterling Johannes XXIII. arbeitete, und dem Humanisten auftat, der sich nach der, wie sie ihm erschien, freieren und reineren Luft der antiken Römischen Republik sehnte. Poggio fand keinen gangbaren Weg, diese Spannung zu lindern, und also stürzte er sich in die Klosterbibliothek mit ihren vernachlässigten Schätzen.
Keine Frage, schrieb er, »dass dieser glorreiche Mann, so elegant, so rein, so voller moralischer und geistiger Kraft nicht länger hätte im Schmutz dieses Gefängnisses, dem Elend dieses Ortes und der wilden Grausamkeit seiner Wächter überdauern können«. Diese Worte waren kein weiterer Lapsus, kein Sprung in jene unüberlegte Bewunderung des wortgewaltigen und doch verdammten Hieronymus, die Leonardo Bruni so erschreckt hatte; hier geht es vielmehr um Poggios Beschreibung der Handschrift des Quintilian-Textes, den er in St. Gallen gefunden hatte:
Er war traurig und in Trauer gehüllt, wie es Menschen sind, denen der Tod droht; sein Bart war verdreckt, sein Haar voller Schmutz, so dass sein Ausdruck und seine ganze Erscheinung deutlich machten, dass er zu einer unverdienten Strafe einbestellt war. Es schien, als strecke er die Hände aus und bitte um die Treue des römischen Volkes, dass es fordere, ihn vor dem ungerechten Urteil zu retten. 26
Die Szene, die er im Mai miterlebt hatte, ist in der Vorstellung des Humanisten noch immer lebendig, als er die Bücher des Klosters durchsieht. Hieronymus hatte dagegen protestiert, dass er »in Schmutz und Fesseln« gehalten werde, »ohne jede Erleichterung«; der Quintilian wurde gefunden »verschmutzt mit Schimmel und Staub«. Hieronymus sei eingesperrt worden, schrieb Poggio an Leonardo Aretino, »in einem dunklen Verlies, wo es ihm unmöglich war zu lesen«. Der Quintilian, schrieb er empört über die Handschrift in der Klosterbibliothek, habe sich »in einer Art stinkendem und düsterem Verlies« befunden, in das man »nicht einmal Menschen, die eines Kapitalverbrechens überführt sind, wegsperren würde«. »Ein Mann, ewiger Erinnerung wert!« – unbedacht bricht das aus Poggio heraus, und nicht den kleinen Finger hatte er rühren können, um Hieronymus zu retten. Ein paar Monate später im Kloster St. Gallen war das anders, hier ließ sich etwas tun für einen Mann, der es allemal verdient hatte, aus dem Gefängnis von Barbaren befreit zu werden.
Es ist unklar, wie bewusst Poggio diese Verbindung zwischen eingekerkertem Ketzer und weggesperrtem Text gewesen ist. Moralisch hellwach und zugleich tief kompromittiert durch sein berufliches Leben, reagierte er auf Bücher, als seien sie lebendige, leidende Menschenwesen. »Beim
Himmel«, schrieb er zum Quintilian-Manuskript, »hätten wir nicht Hilfe gebracht, schon am nächsten Tag wäre er verschwunden gewesen.« Um nichts zu riskieren, setzte sich Poggio daran, das ganze lange Werk mit seiner schönen Handschrift zu kopieren. Vierundfünfzig Tage brauchte er, bis er diese Arbeit vollendet hatte. »Das einzigartige Leuchten des römischen Namens, neben dem es keinen anderen gab als Cicero, und auch er wäre gleichermaßen in Stücke geschnitten und verstreut worden«, schrieb er an Guarino von Verona, »er wurde durch unsere Mühen nicht nur aus dem Exil gerettet, sondern vor der beinahe vollständigen Vernichtung.« 27
Die Expedition ins Kloster war kostspielig, und Poggio steckte chronisch in Geldnöten: die Konsequenz seiner Entscheidung, den einträglichen Weg der Priesterschaft auszuschlagen. Zurück in Konstanz, ohne Stellung und ohne klare Perspektiven, verschlimmerten sich seine Geldsorgen noch. Baldassare Cossa, sein abgesetzter Herr, verhandelte verzweifelt, um sich einen ruhigen Lebensabend zu sichern. Nach drei Jahren Gefangenschaft erkaufte er sich schließlich die Freiheit und wurde zum Kardinal in Florenz gemacht, wo er 1419 starb; sein elegantes Grab im Baptisterium des Doms ist ein Werk Donatellos. Auch Gregor XII., ebenfalls ein Papst, für den Poggio zuvor gearbeitet hatte, starb um diese Zeit. Seine letzten Worte waren: »Ich habe die Welt nicht verstanden, die Welt hat mich nicht verstanden.«
Es war höchste Zeit für einen klugen, bestens ausgebildeten Mann von fast vierzig Jahren, an sich selbst zu denken und sich nach einem sicheren Auskommen umzusehen. Poggio fand nichts Passendes. Stattdessen, nur wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus St. Gallen, verließ er Konstanz erneut, dieses Mal
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