Wende
andere –, auf befremdliche Gedanken brachten. Auf Gedanken, denen man einst in eben dem Land begierig gefolgt war, in das sie nun, aufgrund von Poggios Entdeckung, zurückkehrten. Doch tausend Jahre fast vollständigen Schweigens hatten sie höchst gefährlich gemacht.
Uns erscheint vieles von dem, was in De rerum natura über das Universum gesagt wird, doch sehr vertraut, zumindest denen unter uns, von denen anzunehmen ist, dass sie dieses Gedicht mit Interesse lesen werden. Schließlich gehören viele seiner Hauptargumente zu den Grundlagen, auf denen das moderne Leben aufbaut. 2 Doch sollte man nicht vergessen, dass andere Argumente bis heute fremdartig geblieben sind, wieder andere heftig bestritten werden, und zwar häufig gerade von jenen, die sich nur zu gern auf die wissenschaftlichen Fortschritte berufen, die mit Vorstellungen wie den Lukrez’schen erst ermöglicht wurden. Unter Poggios Zeitgenossen gab es nur ganz wenige, die das, was Lukrez behauptete, nicht unverständlich, unglaubhaft und gottlos gefunden hätten – und für sie spielte es keine Rolle, dass er solche Gedanken in einem Gedicht von erregender, verführerischer Schönheit äußerte.
In einigen, keineswegs erschöpfenden Punkten möchte ich zusammenfassen, welche Zumutungen Lukrez’ Gedicht enthielt. 3
Alles Seiende ist aus unsichtbaren Teilchen zusammengesetzt . Lukrez, dem wenig an einer nüchtern-sachlichen Sprache lag, hat den üblichen Fachbegriff, mit dem griechische Philosophen diese Grundbausteine bezeichnet haben – »Atom«, das Unteilbare –, bewusst vermieden. Stattdessen nutzte er eine Vielzahl gewöhnlicher lateinischer Worte: »Urelemente«, »Grundelemente«, »Körper des Stoffs«, »Keime der Dinge«. Alles, so schreibt er, ist aus diesen Keimen gebildet und kehrt, sich auflösend, zuletzt zu diesen zurück. Unveränderlich, unteilbar, unsichtbar und unendlich an der Zahl, sind sie unablässig in Bewegung, kollidieren und kommen zusammen, um neue Gestalten zu bilden, trennen sich, verbinden sich neu, endlos.
Diese elementaren Teilchen der Materie – die »Keime der Dinge« – sind ewig. Zeit ist nicht endlich – keine abgrenzbare Substanz mit Anfang und Ende –, sondern endlos. Diese unsichtbaren Teilchen, aus denen das gesamte Universum aufgebaut ist, von den Sternen bis zum kleinsten Insekt, sind unzerstörbar und unsterblich, jedes einzelne Objekt im Universum aber ist vergänglich. Will sagen: Alle Formen, die wir beobachten können, selbst solche, die uns am dauerhaftesten erscheinen, sind nur flüchtig: über kurz oder lang werden sich die
Bausteine, aus denen sie zusammengesetzt sind, neu mischen. Nur die Bausteine selbst sind beständig, ebenso der endlose Prozess der Formung, Auflösung und Neuformung.
So bekommen weder Schöpfung noch Zerstörung je die Oberhand; die Gesamtsumme der Materie bleibt konstant, immer wieder neu stellt sich die Balance zwischen dem Lebenden und dem Toten ein:
Und so können die zerstörenden Kräfte niemals den endgültigen Sieg erringen, nie das Seiende auf immer vernichten; noch können die Bewegungen, die Leben erzeugen und Wachstum, die geschaffenen Dinge auf ewig erhalten. Es waltet Krieg seit Anbeginn der Zeiten, ein stets unentschiedener Kampf zwischen den Elementen, bald hier, bald da sind die lebenspendenden Kräfte im Vorteil, bald hier, bald da unterliegen sie auch, und Totenklage mischt sich in den Schrei der Neugeborenen, die eben erst das Licht der Welt erblickt; niemals folgt die Nacht dem Tag, und keine Morgendämmerung der Nacht, ohne dass sie nicht Kindergeschrei vernähmen, das vermischt ist mit dem Jammer, der schrilltönend Tod und schwarzes Begräbnis begleitet.
( On the Nature of Things, 2:569–580)
Der spanische Philosoph George Santayana, der in Harvard lehrte, nannte diese Vorstellung – den endlosen Wandel der Formen, die aus unzerstörbaren Substanzen zusammengesetzt sind – »den großartigsten Gedanken, auf den die Menschheit je gekommen ist«. 4
Die elementaren Teilchen sind unendlich in ihrer Zahl, aber begrenzt in Gestalt und Größe. Lukrez stellt sie sich vor wie Buchstaben eines Alphabets. Aus einer bestimmten Zahl von Grundelementen lassen sich unendlich viele Sätze oder Verse bilden (2:688ff.). Und die Verbindungen werden, wie in der Sprache so bei den »Keimen der Dinge«, nach »bestimmten Gesetzen« gebildet (2:700ff.). So wie sich nicht alle Buchstaben oder Wörter sinnvoll verbinden lassen, so auch nicht
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