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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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alle Elementarteilchen zu jeder möglichen Form. Einige der Keime verhaken sich regelmäßig und ohne Schwierigkeiten mit anderen; andere stoßen einander ab und meiden einander. Lukrez gibt nicht vor, die
verborgenen Gesetze der Materie zu kennen. Doch es sei, so lehrt er, wichtig zu begreifen, dass es ein solches Gesetz gibt und dass es zumindest im Prinzip auch von menschlicher Wissenschaft aufgespürt und begriffen werden kann.
Alle Teilchen bewegen sich in einer unendlichen Leere. Wie die Zeit, so ist auch der Raum grenzenlos. Er kennt keine fixen Punkte, keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende und keine Grenzen. Die Materie ist nicht zu einer festen Masse zusammengepresst. Auch in den Dingen ist Leere; wäre diese nicht, könnten die Grundelemente sich nicht bewegen, nicht kollidieren, sich nicht verbinden, sich nicht wieder trennen. Zu den Beweisen für diese Leere gehören nicht nur die unaufhörliche Bewegung, die wir um uns wahrnehmen, sondern auch solche Phänomene wie das Wasser, das durch Höhlenwände dringt, die Nahrung, die vom Körper aufgenommen wird, Töne, die durch Wände geschlossener Räume dringen, die Kälte, die in die Knochen kriecht.
    Darum besteht das Universum aus Materie – aus den Urelementen und allen Formen, zu denen diese sich verbinden – und Raum, ungreifbar und leer. Nichts anderes existiert.
Das Universum hat keinen Schöpfer oder Designer. Die Urelemente sind nicht geschaffen und können auch nicht zerstört werden. Die Muster von Ordnung und Unordnung in der Welt folgen keinem göttlichen Plan. Vorsehung ist reine Phantasie.
    Das, was ist, ist weder Manifestation eines übergeordneten Plans noch eines intelligenten Designs, das der Materie inhärent wäre. Kein oberster Choreograph hat deren Bewegungen geplant, und die Keime der Dinge hatten kein Treffen, in dem sie diskutiert und entschieden hätten, was zu wem würde.
     
    Doch weil unzählige von ihnen seit ewigen Zeiten von Stößen durchs Universum hin und her geschleudert werden, sich dabei auf zahllose Weisen verändern, haben sie jede Art der Bewegung und Verbindung erprobt, sind so wohl auch zu jenen Gestaltungen gekommen, deren unser Universum zu seiner Entstehung bedurfte.
    ( On the Nature of Things, 1:1024ff.) 5

     
     
    Damit hat das Sein weder Ziel noch Zweck, es gibt nur endloses Werden und Vergehen, allein vom Zufall regiert.
Alle Dinge entstehen infolge geringer Abweichungen. Würden die unzählig vielen Einzelpartikel in gerader Linie durch die Leere sausen, wie Regentropfen vom eigenen Gewicht gezogen, würde niemals etwas existieren. Doch die Teilchen bewegen sich nicht im Gleichschritt in eine vorherbestimmte Richtung. Vielmehr »weichen sie zu völlig unvorhersehbarer Zeit, an unvorhersehbarem Ort ein wenig ab von ihrem geraden Kurs, doch nur gerade so viel, dass man von einer geänderten Richtung sprechen kann« (2:218ff.). Insofern ist die Position der Elementarteilchen unbestimmbar. 6
    Dieser kleine Ruck – Lukrez spricht abwechselnd von declinatio, inclinatio oder clinamen – ist die allerkleinste Bewegung, nec plus quam minimum (2:244). Doch er, diese allerkleinste, zufällige, abgelenkte Bewegung – Greenblatt wählt, auch für den Titel seines Buches, das englische Wort »swerve« (d.Ü.) – genügt, um eine endlose Kette von Kollisionen auszulösen. Was immer im Universum existiert, existiert wegen dieser zufälligen Kollisionen winziger Teilchen. Die endlosen Verbindungen und Wiederverbindungen, die aus diesen Kollisionen in einer endlosen Zeitspanne entstehen, bewirken, dass »das unersättliche Meer aus vollen Strömen gespeist, die Erde von Sonnenwärme belebt wird und ihre Geschöpfe erneuert, die Familie der Tiere entsteht und gedeiht und des Äthers umkreisende Feuer niemals erlöschen« (1:1031ff).
Die zufällige Abweichung, der kleine Ruck ist Ursprung auch des freien Willens. Im Leben aller fühlenden Geschöpfe, bei Menschen wie Tieren gleichermaßen, ist die zufällige Abweichung der Elementarteilchen verantwortlich dafür, dass es so etwas wie den freien Willen gibt. Denn wäre alle Bewegung eine einzige, lang vorherbestimmte Kette, könnte es so etwas wie Freiheit gar nicht geben. 7 Von Ewigkeit an folgte Ursache auf Ursache, wie das Schicksal es bestimmte. Tatsächlich aber entreißen wir dem Schicksal unseren freien Willen.
    Wo aber liegt der Beweis, dass dieser Wille existiert? Warum sollten wir uns nicht einfach vorstellen, dass die Materie in lebenden Geschöpfen sich

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