Wende
»Sie wissen nicht, dass wir ihnen die Pest bringen.« 1
Ein einfaches Wort für die Pest, die Lukrez brachte, ist Atheismus – ein Vorwurf, der oft gegen ihn erhoben wurde, nachdem sein Gedicht wieder gelesen wurde. Aber Lukrez war gar kein Atheist. Er glaubte an die Existenz von Göttern. Aber er glaubte auch, dass sie sich, wenn sie denn wirklich Götter waren, sich niemals um uns Menschen und das, was wir tun, kümmern würden. Göttlichkeit, dachte er, kann sich ihrem eigenen Wesen nach nur des ewigen Lebens und Friedens erfreuen, unberührt von jeglichem Leid und jeglicher Störung, völlig indifferent dem menschlichen Handeln gegenüber.
Wenn es uns gefällt, das Meer Neptun zu nennen und Korn und Wein Ceres und Bacchus, dann, so Lukrez, sind wir frei, dies zu tun, so wie wir die runde Erde auch Göttermutter nennen können. Und wenn uns, angesichts ihrer feierlichen Schönheit, danach ist, religiöse Heiligtümer zu besuchen, dann wird uns das keinen Schaden zufügen – vorausgesetzt, wir betrachten die Götterbildnisse mit »ruhigem, friedlichem Herzen«. (6:78) Nicht eine Minute jedoch sollten wir dem Glauben verfallen, dass wir eine dieser Gottheiten verärgern oder günstig stimmen könnten. Prozessionen, Tieropfer, ekstatische Tänze, Trommeln und Zimbeln und Pfeifen, Wolken verstreuter Rosenblätter, Eunuchenpriester, gemeißelte Bildnisse des Kindgottes – all diese Riten und Kulte sind, so unwiderstehlich und eindrucksvoll sie sein mögen, letzten Endes bedeutungslos, denn die Götter, die sie erreichen sollen, sind nicht von unserer Welt und völlig getrennt von ihr.
Natürlich ließe sich sagen, trotz seines Bekenntnisses zum religiösen Glauben sei Lukrez eine Art Atheist gewesen, als solcher sogar ausnehmend clever, denn zu fast allen Zeiten wäre es Gläubigen, ganz gleich welcher Religion sie angehörten, sinnlos erschienen, Götter zu verehren, hätte nicht zugleich die Hoffnung bestanden, ihren Zorn besänftigen beziehungsweise ihren Schutz, ihre Gunst erflehen zu können. Welchen Sinn hätte ein Gott, der keinerlei Interesse hat an Strafe oder Lohn? Wie Lukrez immer wieder betont, sind Ängste und Hoffnungen, die sich darauf richten, nichts anderes als eine giftige Form des Aberglaubens, in dem sich zu gleichen Teilen
absurde Selbstüberschätzung und absurde Ängste verbinden. Sich vorzustellen, dass Götter sich tatsächlich um das Schicksal der Menschen oder um deren rituelle Praktiken bekümmerten, sei, wie er schrieb, eine ausgesprochen pöbelhafte Beleidigung der Götter – so, als seien sie für ihr Glücksempfinden angewiesen auf unsere gemurmelten Worte, unser Wohlverhalten. Doch diese Beleidigung wäre noch das geringste Problem: Sie könnte den Göttern nicht gleichgültiger sein. Nichts, was wir tun (oder nicht tun), könnte sie je interessieren. Das wirkliche Problem sieht Lukrez darin, dass derart falsche Vorstellungen und falscher Glauben unausweichlich zu menschlichem Unglück führen.
Solche Ansichten waren denen Poggios mit Sicherheit entgegengesetzt, und sie hätten jeden seiner Zeitgenossen, hätte er sie laut geäußert, in ernsteste Schwierigkeiten gebracht. Für sich genommen jedoch, und solange man sie im Zusammenhang eines heidnischen Textes beließ, gaben sie kaum Anlass, sich zu fürchten. Auch Poggio hätte sich, so wie dies spätere Leser des Gedichts getan haben, sagen können, der brillante antike Dichter habe schließlich nichts anderes getan, als die Leere des heidnischen Glaubens und damit auch die Absurdität von Opfern zu erfassen, die an Götter gerichtet werden, die gar nicht existieren. Letztlich habe Lukrez das Pech gehabt, kurz vor der Ankunft des Messias gelebt zu haben. Nur ein Jahrhundert später geboren, und er hätte die Chance gehabt, die Wahrheit zu erfahren. Immerhin aber habe er begriffen, dass die Praktiken seiner Zeitgenossen wertlos waren. Darum übertragen sogar viele moderne englische Übersetzungen des Lukrez’schen Gedichts, was im lateinischen Text einfach religio heißt, pejorativ mit »superstition«, Aberglauben.
Atheismus – genauer: die Gleichgültigkeit der Götter – war nicht das einzige Problem, das sich mit Lukrez’ Gedicht stellte. Das Hauptproblem lag anderswo, nämlich in der materiellen Welt, die wir alle bewohnen. Auf sie bezogen, fanden sich die beunruhigendsten Behauptungen, Sätze und Ideen, die alle, die ihrer beträchtlichen Überzeugungskraft erlagen – Machiavelli, Bruno, Galileo und
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