Wende
wegen der gleichen blind zufälligen Stöße bewegt, die
die Stäubchen in ihrer Wolke bewegt? Lukrez’ Bild dafür ist der Sekundenbruchteil, in dem auf der Rennbahn die Starttore sich öffnen und die stampfenden Pferde, wild auf Bewegung, ihren Körper nun tatsächlich vorwärtstreiben können. Dieser Sekundenbruchteil ist das erregende Schauspiel eines mentalen Aktes, der eine Masse in Bewegung setzt. Und weil dieses Bild seinen Zweck doch nicht ganz erfüllt – schließlich sind Rennpferde Geschöpfe, die durch die Peitsche ihres Reiters angetrieben werden –, ergänzt Lukrez sein Argument durch die Feststellung, dass ein Mensch zwar von einer äußeren Kraft getrieben sein könne, stets aber auch in der Lage sei, sich dieser bewusst zu widersetzen. 8
Die Natur experimentiert unaufhörlich. Es gibt keinen einzelnen Augenblick des Uranfangs, keine mythische Schöpfungsszene. Alle Lebewesen, von den Pflanzen und Insekten bis zu den höheren Säugetieren und Menschen haben sich in einem langen, komplexen Prozess von Versuch und Irrtum entwickelt. In diesem Prozess gab es viele Fehlstarts und Sackgassen, es kam zu Missgestalten und Wunderwesen, zu Fehlentwicklungen, will sagen zu Lebewesen, die nicht mit allen Eigenschaften ausgestattet waren, die sie zum Kampf um Ressourcen und zum Hervorbringen von Nachkommen gebraucht hätten. Wesen dagegen, denen es die Kombination ihrer Organe ermöglicht, sich anzupassen und die eigene Art zu reproduzieren, können sich zumindest so lange selbst erhalten, bis ihr Überleben an veränderten Lebensumständen scheitert. 9
Erfolgreiche Anpassung und Fehlschläge sind das Ergebnis einer unglaublichen Zahl von Verbindungen, die in einer unbegrenzten Zeitspanne hervorgebracht (reproduziert und wieder eliminiert) werden. Es sei, räumt Lukrez ein, schwer, sich das begreiflich zu machen, aber »es schafft sich das Geschaffene seine Funktion erst selbst« (4:835). Lukrez erläutert: »Ehe das Augenpaar geschaffen war, gab es kein Sehen, und auch kein Sprechen, bevor nicht die Zunge da war.« (4:836f.) Diese Organe wurden nicht geschaffen, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, sondern indem sie sich bildeten, ermöglichten sie den Geschöpfen allmählich, zu überleben und ihre Art zu erhalten.
Das Universum wurde weder wegen noch für die Menschen erschaffen. Die Erde – mit ihren Meeren und Wüsten, feindlichen Klimazonen, wilden Tieren, Krankheiten – wurde ganz offensichtlich nicht dazu geschaffen, es unserer Art behaglich zu machen. Anders als viele andere Tiere, die von Geburt an mit dem ausgestattet sind, was sie zum Überleben brauchen, kommen Menschenkinder nahezu schutzlos auf die Welt. Man bedenke, schreibt Lukrez in einer berühmten Passage, dass ein Kleinkind nicht anders als ein schiffbrüchiger Seemann von wütenden Wellen ans Ufer geworfen wird:
Sobald die Natur ihn mit dem Stoß der Wehen aus dem Leib der Mutter ans Ufer des Lichts gebracht, liegt der Säugling am Boden, sprachlos, nackt und völlig ausgeliefert.
(5:223f.) 10
Nicht das Schicksal der Gattung (geschweige denn das des Einzelnen) ist der Pol, um den sich alles dreht. Und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Menschen als Gattung ewig weiterleben werden. Im Gegenteil, es steht fest, dass über eine unendliche Zeitspanne hinweg manche Arten entstehen, andere verschwinden: hervorgebracht und vernichtet in einem endlosen Prozess der Veränderung. Es gab andere Formen des Lebens vor uns, die längst vergangen sind, und es werden Formen des Lebens nach uns existieren, wenn unsere Art untergegangen ist.
Menschen sind nicht einzigartig, vielmehr Teil des sehr viel umfassenderen materiellen Prozesses, der sie nicht nur mit allen Formen des Lebens verbindet, sondern auch mit der anorganischen Materie. Die unsichtbaren Partikel, aus denen lebende Dinge, die Menschen eingeschlossen, zusammengesetzt sind, sind empfindungslos, sie stammen auch nicht aus irgendeiner mysteriösen Quelle. Wir sind aus dem gleichen Stoff, aus dem auch alles andere sich zusammensetzt.
Die Menschen besetzen beileibe nicht den privilegierten Platz im Sein, auf dem sie sich so gerne sehen: Auch wenn sie dies häufig eher verleugnen, so teilen sie doch viele ihrer so hoch geschätzten Eigenschaften mit anderen Tieren. Gewiss, jedes Individuum ist einzigartig,
wegen der Überfülle des Stoffes aber gilt das auch für praktisch alle anderen Kreaturen: Wie anders wäre sonst zu erklären, dass ein Kalb sein Muttertier
Weitere Kostenlose Bücher