Wende
den Intrigen und der politischen Schwäche, den periodischen Ausbrüchen der Beulenpest, sondern in das Rom des Forum und des Senatspalastes und eines Latein, dessen kristalline Schönheit ihn mit Staunen erfüllte und mit Sehnsucht nach einer untergegangenen Welt.
Welche Bedeutung sollte das für einen Menschen haben, der im Jahre 1417 mit beiden Beinen fest auf dem Boden des südlichen Deutschland stand? Ein Mann musste, wenn er Poggio zuhörte, nicht sonderlich abergläubisch
sein, um an eine besondere Spielart der Zauberei zu denken, an Bibliomantie; ein etwas gebildeterer Zeitgenosse hätte vielleicht psychische Zwänge diagnostiziert, Bibliomanie. Und ein Frommer hätte sich gefragt, wie sich überhaupt irgendeine Seele derart leidenschaftlich nach einer Zeit sehnen konnte, in der Christus den in finsterer Nacht lebenden Heiden sein Versprechen der Erlösung noch gar nicht gebracht hatte. Und alle hätten sie sich die naheliegende Frage gestellt: Wem diente dieser Mann eigentlich?
Vielleicht hätte man Poggio bedrängt, unter Druck gesetzt, um eine Antwort zu erhalten. Und erfahren, dass er bis vor kurzem im Dienst des Papstes gestanden hatte, wie er schon zuvor einer Reihe einander ablösender Päpste gedient hatte. Seine Berufsbezeichnung war Skriptor, das heißt, er war ein begabter Schreiber amtlicher Dokumente der päpstlichen Bürokratie; und er hatte sich, gewandt und klug, wie er war, auf den begehrten Posten eines apostolischen Sekretärs emporgearbeitet. Als solcher stand er zur Verfügung, wenn die Worte des Papstes niederzulegen, seine Regierungsentscheidungen festzuhalten, die ausgedehnte internationale Korrespondenz in elegantem Latein zu verfassen waren. In der förmlichen Umgebung eines Hofes, in der die physische Nähe zum absoluten Herrscher von entscheidender Bedeutung war, war Poggio ein bedeutender, ein gefragter Mann. Er hörte zu, wenn der Papst etwas in sein Ohr flüsterte, er flüsterte seine Antwort, er wusste das Lachen des Papstes ebenso zu deuten wie dessen Stirnrunzeln. Er hatte – wie das Wort Sekretär nahelegt, das abgeleitet ist vom lateinischen secretus, geheim – Zugang zu den Geheimnissen des Papstes. Und dieser Papst hatte eine Menge Geheimnisse.
Zu der Zeit, als sich Poggio auf seine Jagd nach uralten Handschriften machte, war er allerdings nicht länger apostolischer Sekretär. Er hatte seinen Dienstherrn, den Papst, nicht verärgert, und dieser lebte auch noch, und doch hatte sich alles verändert. Der Papst, dem Poggio gedient hatte und vor dem die Gläubigen (wie auch die weniger Gläubigen) einst gezittert hatten, saß in diesem Winter 1417 im Heidelberger Schloss in kaiserlicher Haft. Er hatte alles verloren: Titel, Namen, Macht und Würde, war öffentlich gedemütigt worden, verurteilt von den Fürsten seiner eigenen Kirche. Das heilige und unfehlbare Konzil von Konstanz erklärte, durch seinen »verabscheuungswürdigen und unziemlichen« Lebenswandel habe
er Schande über die Kirche und das Christentum gebracht, sei in seinem erhabenen Amt darum nicht länger tragbar. 3 Entsprechend entband das Konzil alle Gläubigen von ihrer Treue und ihrem Gehorsam gegenüber dem Papst; tatsächlich war es verboten, ihn länger Papst zu nennen oder seinen Anordnungen zu gehorchen. In der ganzen langen Geschichte der Kirche hatte es dergleichen noch nicht gegeben – und es sollte auch in Zukunft nie wieder so weit kommen.
Der abgesetzte Papst hatte diese formelle Absetzung nicht persönlich miterlebt, doch Poggio, bis dahin apostolischer Sekretär dieses Papstes, war möglicherweise dabei, als der Erzbischof von Riga den päpstlichen Siegelring einem Goldschmied übergab, der ihn zusammen mit dem päpstlichen Wappen feierlich in Stücke schlug. Alle Bediensteten des Ex-Papstes wurden förmlich entlassen, seine Korrespondenz – die Poggio verwaltet hatte – wurde offiziell beendet. Den Papst, der sich Johannes XXIII. genannt hatte, gab es nicht mehr; der Mann, der diesen Titel getragen hatte, war nun wieder der, als der er getauft worden war, Baldassare Cossa. Und Poggio ein Mann ohne Herr und Dienst.
Das war zu Beginn des 15. Jahrhunderts kein beneidenswerter, ja ein gefährlicher Status. Dörfer und Städte beobachteten wanderndes Volk mit Misstrauen; Vagabunden wurden ausgepeitscht und gebrandmarkt, und auf den einsamen Wegen und Straßen einer weitgehend unkontrollierten Welt waren Menschen ohne Schutz äußerst gefährdet. Natürlich war Poggio kein Vagabund,
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