Wende
geschrieben: »a team of little atomi« – und erwartete wohl, dass sein Zuschauervolk auf der Stelle verstünde, dass Mercutio auf diese etwas neckische Weise auf unvorstellbar kleine Teilchen anspielt. Das ist schon für sich verwunderlich, noch mehr aber im Kontext einer Tragödie, die sich mit der zwingenden Macht des Verlangens in einer Welt befasst, deren Bewohner auffallend häufig jede Aussicht auf ein Leben nach dem Tod verneinen:
Und will aus diesem Palast dichter Nacht
Nie wieder weichen. Hier, hier will ich bleiben
Mit Würmern, die dir Dienerinnen sind.
O, hier bau’ ich die ew’ge Ruhstatt mir ...
(V.3:107–110)
Brunos Jahre in England waren nicht umsonst gewesen, nicht spurlos verhallt. Der Autor von Romeo und Julia teilte sein Interesse am Lukrez’schen Materialismus mit Edmund Spenser, John Donne, Francis Bacon und anderen. Selbst wenn Shakespeare weder Oxford noch Cambridge besucht hatte, sein Latein war wohl gut genug, dass er Lukrez’ Gedicht für sich alleine hat lesen können. In jedem Fall aber kannte er John Florio, einen Freund Giordano Brunos; außerdem war da auch noch sein Dramatikerkollege Ben Jonson, mit dem er hätte Lukrez diskutieren können. Jonsons mit Namen versehenes Exemplar von De rerum natura blieb erhalten und befindet sich heute in der Houghton Library in Harvard. 2
Ganz sicher ist Shakespeare Lukrez in einem seiner Lieblingsbücher begegnet: in den Essais von Michel de Montaigne. Diese, in Frankreich 1580 zum ersten Mal erschienen und 1603 ins Englische übersetzt, enthalten fast einhundert direkte Zitate aus De rerum natura. Doch ist Affinität keine Frage der Zitate alleine, sie ist tief zwischen Lukrez und Montaigne und geht über den Wortlaut einzelner Passagen weit hinaus.
Wie Lukrez verachtet auch Montaigne eine Moral, die man glaubte, mit Albträumen vom Jenseits herbeizwingen zu müssen; er wusste, was er an seinen Sinnen hatte und am Augenschein der materiellen Welt; asketische Selbstbestrafung und Gewalt gegen das Fleisch waren ihm, der die innere Freiheit und Zufriedenheit schätzte, zuwider. In seiner Beschäftigung mit der Todesfurcht war er von den Stoikern beeinflusst, doch auch vom Lukrez’schen Materialismus, und es ist Letzterer, der sich als der eigentliche Führer erweist; er ist es, der Montaigne zum Lobpreis körperlicher Lust führt.
Montaigne hatte sich vorgenommen, die Rätsel und Wendungen seiner körperlichen und geistigen Existenz in all ihrer partikulären Besonderheit zu erfassen:
Ich bin weder auf Salate noch auf Obst sonderlich erpicht, außer auf Melonen. Meinem Vater waren alle Arten von Soßen zuwider; ich mag sie alle.... In uns gibt es ständig unregelmäßige und unergründliche Veränderungen. Rettiche zum Beispiel fand ich anfangs bekömmlich, dann unbekömmlich, und jetzt bekommen sie mir wieder.
(»Über die Erfahrung«, III.13, S. 557) 3
Für diesen großen Versuch war Lukrez’ unpersönliche philosophische Epik ein weniger geeigneter Führer. Gleichwohl ist Montaignes leicht exzentrischer Versuch, ein ganzes Selbst in einen Text zu fassen, auf der Vision des materiellen Kosmos aufgebaut, die Poggio 1417 aus ihrem langen Schlaf erweckte. So heißt es zu Beginn des Kapitels »Über das Bereuen«:
Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlass: Die Erde, die Felsen des Kaukasus und die Pyramiden Ägyptens schaukeln mit dem Ganzen und in sich. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln.
(II.2, S. 398)
Und Menschen, so sehr sie der Meinung sind, sie seien es, die entschieden, ob sie sich bewegen oder ob sie stillstehen, bilden da keine Ausnahme. Im Essay »Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns« überlegt Montaigne:
Unser übliches Verhalten besteht darin, den augenblicklichen Neigungen unserer Begierde zu folgen: nach links, nach rechts, bergauf, bergab, wie der Wind der Gelegenheiten uns treibt.
(II.1, S. 166)
Und als räume diese Darstellung der Dinge den Menschen immer noch zuviel Herrschaft ein, betont er im Folgenden, auch hier mit Hilfe eines Lukrez-Zitats, die völlig zufällige Natur menschlicher Abweichungen (»swerves«):
Wir gehen nicht, wir werden geschoben wie Treibholz, bald sanft, bald heftig, je nachdem, ob das Wasser aufgewühlt oder ruhig dahinfließt.
»Denn keiner weiß, wohin er will, und fort und fort versuchen wir uns zu entfliehn, von Ort zu Ort.«
(II.1, S. 166; Lukrez 3:1058f.)
Mit dem unstet sprunghaften
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