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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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Exemplars sei mit Notizen bedeckt, zudem enthalte es viele Marginalien in Englisch und Französisch, nur der Name des Besitzers sei verloren. Wissenschaftler konnten rasch bestätigen, was Quarrie vermutet hatte, sobald er das Buch in der Hand hielt: Es war Montaignes persönliche Ausgabe, die alle Zeichen der leidenschaftlichen Beschäftigung des Essayisten mit dem Lukrez-Gedicht enthielt. Montaignes Name war überschrieben worden, darum hatte es so lange gedauert, bis erkannt wurde, wem das Buch gehörte. Dabei hatte er
mit einem mächtig heterodoxen Kommentar, in Latein auf das dritte Leerblatt geschrieben, doch einen merkwürdigen Hinweis darauf hinterlassen, dass dies nur sein Buch gewesen sein konnte: »Sofern die Bewegungen der Atome so vielfältig sind, ist es nicht unvorstellbar, dass die Atome einmal auf diese Weise zusammenkamen oder dass sie in der Zukunft noch einmal so zusammenkommen werden und einen anderen Montaigne das Licht der Welt erblicken lassen.« 5
    Montaigne machte sich die Mühe, die vielen Passagen des Gedichts zu markieren, die ihm »gegen Religion« gerichtet schienen, indem sie die fundamentalen christlichen Lehrsätze der creatio ex nihilo, der göttlichen Vorsehung und des Jüngsten Gerichts bestreiten. Angst vor dem Tod, schrieb er in einer der Randnotizen, ist der Grund all unserer Laster. Vor allem aber, und das hält er immer wieder fest, macht Lukrez keinen Wesensunterschied zwischen Körper und Seele: »Die Seele ist körperlich« (296); »Seele und Körper sind aufs Engste verbunden« (302); »Die Seele ist sterblich« (306); »Die Seele ist, wie der Fuß, Teil des Körpers« (310); »Körper und Seele sind untrennbar verbunden« (311). Das sind Anmerkungen beim Lesen, nicht unbedingt seine eigenen Überzeugungen. Doch sie zeigen, wie fasziniert Montaigne von den radikalen Schlüssen war, die man aus Lukrez’ Materialismus ziehen muss. Und so klug es war, diese Faszination verborgen zu halten, wissen wir doch, dass Montaigne mit seinen Reaktionen seinerzeit bei weitem nicht alleine stand.
    Selbst in Spanien, wo die Inquisition besonders wachsam war, wurde Lukrez’ Gedicht gelesen, in gedruckten Ausgaben aus Italien und Frankreich, die über die Grenze gebracht wurden, in Handschriften, die heimlich von Hand zu Hand gingen. Anfang des 17. Jahrhunderts besaß Alonso de Olivera, Leibarzt von Prinzessin Isabel de Borbón, eine französische Ausgabe von 1565. 1625 erwarb der spanische Dichter Francisco de Quevedo bei einem Buchverkauf eine handschriftliche Kopie des Werkes für nur einen Real. 6 Der Schriftsteller und Antiquar Rodrigo Caro aus Sevilla besaß zwei Ausgaben, gedruckt 1566 in Antwerpen, wie aus dem 1647 aufgestellten Inventar seiner Bibliothek hervorgeht. Und im Kloster von Guadalupe hatte Padre Zamora, wie es scheint, eine 1663 in Amsterdam gedruckte Lukrez-Ausgabe in seiner Zelle. Es war – das musste auch Thomas Morus bei seinen fieberhaften Versuchen, protestantische Bibelübersetzungen
aufzuspüren und verbrennen zu lassen, erfahren – mit Erfindung des Buchdrucks wahnsinnig schwer geworden, ein Buch zu töten. Und noch schwerer war es offenbar, Gedanken zu unterdrücken, die entscheidend wichtig waren, um der Physik und der Astronomie wissenschaftliche Fortschritte zu ermöglichen.
    Nicht, dass es an Versuchen gemangelt hätte. Hier zum Beispiel wollen die Jesuiten im 17. Jahrhundert vollenden, was mit dem Mord an Bruno nicht gelungen ist:
    Nichts geht von den Atomen aus
    Alle Körper der Welt leuchten in der Schönheit ihrer Formen.
Ohne sie wäre der Kosmos ein immenses Chaos.
    Am Anfang schuf Gott die Dinge, damit sie etwas hervorbrächten.
Betrachte als nichtig das, aus dem nichts hervorgehen kann.
Du, o Demokrit, du gestaltest nichts Neues, wenn du bei den Atomen beginnst.
Nichts erzeugen die Atome, folglich sind die Atome nichts. 7
    Dies sind die Worte eines lateinischen Gebets: Junge Jesuiten an der Universität von Pisa hatten es jeden Tag zu sprechen, um abzuwehren, was ihre Oberen als besonders gefährliche Versuchung betrachteten. Das Gebet war ein Exorzismus, gerichtet gegen den Geist des Atomismus; es sollte bekräftigen, dass Gestalt, Form und Schönheit der Dinge allein Gottes Werk waren. Die Atomisten bestaunten, wie die Dinge waren, und erfreuten sich daran: Lukrez betrachtete das Universum als unaufhörliche, intensiv erotische Hymne an Venus. Der gehorsame junge Jesuit aber sollte sich jeden Tag klarmachen, dass die einzige Alternative zu

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