Wende
Leben des Geistes, an dem Montaignes Essays (und Essaykunst) teilhaben, verhält es sich nicht anders: »Aus einem Gegenstand machen wir tausend und geraten durch solch fortwährendes Vervielfältigen und Unterteilen in die Unendlichkeit von Epikurs Atomen.« (III.13, »Über die Erfahrung«, S. 538) Besser als irgendwer sonst, Lukrez eingeschlossen, macht Montaigne (be)greifbar, wie es sich, und zwar von innen her, anfühlt, zu denken, zu schreiben, in einem epikureischen Universum zu leben.
Und indem er das tat, kam Montaigne darauf, dass er einen Traum würde aufgeben müssen, der zu Lukrez’ liebsten gehörte: den Traum, in ruhiger Sicherheit am Ufer stehend zuschauen zu können, wie andere in wildem Wasser Schiffbruch erleiden. Es gibt, begriff Montaigne, diese beständige Klippe nicht, auf der man stehen könnte; er war bereits an Bord des Schiffes. Montaigne teilte den epikureischen Skeptizismus vollkommen, mit dem Lukrez das rastlos eitle Streben nach Ruhm und Macht und Reichtum betrachtete, und er feierte seinen eigenen Rückzug aus der Welt in die Privatheit seines Arbeitszimmers, rings von Büchern umgeben im Turm seines Schlosses. Doch gerade der Rückzug scheint seinen Sinn für
die unaufhörlichen Bewegungen nur geschärft zu haben, seine Wahrnehmung der Flüchtigkeit der Formen, der Pluralität der Welten, der zufälligen Wendungen, denen er, wie jeder andere auch, völlig ausgeliefert war.
Montaignes skeptisches Temperament bewahrte ihn vor der dogmatischen Gewissheit des Epikureismus. Seine intensive Beschäftigung mit De rerum natura, mit dem Stil des Gedichts ebenso wie mit dessen Ideen, half ihm dabei, sich Rechenschaft zu geben über die Erfahrung des gelebten Lebens und diese Erfahrung dann, zusammen mit den Früchten seiner Lektüren und Reflexionen, zu beschreiben, so getreu wie es ihm nur möglich war. Die Vertiefung in dieses Gedicht half ihm, den rechten Ausdruck zu finden für die Zurückweisung der frommen Furcht, für die Konzentration auf diese Welt und nicht auf ein Leben nach dem Tod, für die Verachtung jedes religiösen Fanatismus, für seine Begeisterung über angeblich primitive Gesellschaften, seine Bewunderung für das Einfache und Natürliche, seine Abscheu vor Grausamkeit, sein tiefes Verständnis der animalischen Natur des Menschen und das mit dieser Einsicht korrespondierende Mitgefühl mit anderen Spezies der Tierwelt.
Es lag im Geist des Lukrez, wenn Montaigne im Essay »Über die Grausamkeit« schrieb, dass er »bereitwillig der Königsherrschaft, die man uns fälschlicherweise über die andern Geschöpfe zuschreibt«, entsage, auch könne er kaum zusehen, wenn einem jungen Huhn der Hals umgedreht werde, und bekannte, dass »ich meinem Hunde das Herumtollen kaum verweigern kann, das er mir meist im unpassendsten Augenblick anbietet oder abzubetteln sucht«. (II.11, S. 216) In eben diesem Sinn spottet er in der »Apologie für Raymond Sebond« über die Phantasie, nach der die Menschen Mittelpunkt des Universums seien:
Warum also sollte ein Gänseküken nicht folgendermaßen daherquaken: »Alle Dinge des Weltalls sind meinetwegen da. Zu meinen Diensten stehen die Erde, auf ihr zu watscheln, die Sonne, mir zu leuchten, und die Sterne, mich mit ihrem Einfluss zu durchdringen; die Winde gereichen mir zu diesem, die Gewässer zu jenem Vorteil; auf niemand blickt das Himmelsgewölbe so freundlich hernieder wie auf mich – ich bin der Liebling der Natur.
(II.12, S. 266)
Auch wo Montaigne über das würdige Ende des Sokrates nachdenkt, tat er dies im Geist des Lukrez, denn er beschäftigte sich – wie im Essay »Über die Grausamkeit« – mit dem unplausibelsten, aber höchst epikureischen Detail, nämlich mit dem »Lustschauer, der ihn überlief, als er sich nach Abnahme der Ketten das Bein kratzte« (II.11, S. 212).
Vor allem aber finden sich Lukrez’ Fingerabdrücke überall dort, wo Montaigne über seine beiden Lieblingssujets nachsinnt, die geschlechtliche Liebe und den Tod. Als ihm einfällt, dass die Kurtisane Flora gesagt hat, »nie habe sie mit Pompeius geschlafen, ohne dass er hinterher mit den Abdrücken ihrer Bisse habe herumlaufen müssen«, denkt Montaigne sofort auch an Verse von Lukrez: »Den sie heiß begehren, drücken sie und beißen/seine Lippen blutig, seinem Körper reißen/Wunden sie« (»Schwierigkeiten steigern unser Verlangen«, II.15, S. 304; Lukrez 4:1079f.). Montaigne drängt jene, deren sexuelle Leidenschaft zu mächtig ist, als dass
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