Wende
kopernikanischen Lehre noch weiter zu treiben: Es gehe gar nicht nur um Erde oder Sonne, das Universum insgesamt kenne keinen Mittelpunkt. Denn es gebe multiple Welten, schrieb er, Lukrez paraphrasierend, und auch in diesen verbänden sich, in ihrer unendlichen Zahl, die Keime der Dinge, um andere Menschenrassen und Tiere zu schaffen. 26 Jeder am Himmel zu beobachtende Fixstern sei eine Sonne, unzählige gebe es, verstreut im grenzenlosen Raum. Viele von ihnen seien begleitet von Trabanten, die sie umkreisten, so wie die Erde die Sonne umkreise. Also könne sich das Universum gar nicht um uns drehen, nicht um unser Verhalten und auch nicht um unser Schicksal. Denn damit sind wir nur ein winziges Teilchen eines unbegreiflich größeren Ganzen. Kein Grund jedoch, vor Angst zu erschauern: Wir sollten und wir können die Welt mit Bewunderung, Dankbarkeit und Ehrfurcht erfassen und annehmen. Gefährlichere Ansichten konnte man damals kaum äußern, und das galt für jede einzelne dieser Behauptungen. Es
machte die Dinge gewiss nicht besser, dass Bruno, als man ihn drängte, seine Kosmologie mit der Bibel in Einklang zu bringen, schrieb, die Bibel tauge besser als Leitfaden für ein moralisches Leben denn als Anweisung zur Vermessung des Himmels. Viele Zeitgenossen hätten dem vielleicht sogar zugestimmt, aber es wäre alles andere als klug gewesen, so etwas öffentlich zu äußern, schon gar nicht in gedruckter Form.
Bruno war gewiss nicht der einzige brillante wissenschaftliche Kopf im Europa dieser Zeit, der die Natur der Dinge neu durchdenken wollte. In London wird er aller Wahrscheinlichkeit nach Thomas Harriot (1560 bis 1621) getroffen haben, der das größte Teleskop auf der Insel gebaut, die Sonnenflecken entdeckt und untersucht, die Trabanten der Planeten beobachtet und erklärt hatte, dass sich die Planeten nicht in vollkommenen Kreisbahnen bewegten, sondern auf elliptischen Umlaufbahnen. Er befasste sich mit mathematischer Kartographie, entdeckte das Sinusgesetz der Lichtbrechung, und auch auf dem Gebiet der Algebra gelang ihm Bahnbrechendes. Viele dieser Entdeckungen nahmen vorweg, wofür später Galileo Galilei, Descartes und andere berühmt wurden; keine dieser Errungenschaften wurde Harriot zugeschrieben. Allerdings wurden alle diese Ideen und Entdeckungen erst in der Masse unveröffentlichter Papiere gefunden, die er hinterlassen hat. Unter ihnen war auch eine Liste, in der Harriot, selbst Atomist, penibel die Angriffe festgehalten hat, die Zeitgenossen wegen mutmaßlichem Atheismus gegen ihn gerichtet hatten. Diese Angriffe, das wusste er, konnten sich nur verstärken, würde er auch nur eine seiner Entdeckungen veröffentlichen, und das Leben stand ihm näher als der Ruhm – was man ihm wohl kaum vorwerfen kann. 27
Bruno dagegen vermochte nicht zu schweigen. Über sich selbst, den Nolaner, schrieb er:
So hat er für jeden, der Sinn und Verstand besitzt, mit dem Schlüssel unermüdlicher Nachforschung diejenigen Hallen der Wahrheit geöffnet, die sich überhaupt von uns öffnen lassen. Er hat die bedeckte, und verschleierte Natur entblößt, den Maulwürfen Augen verliehen, und die Blinden erleuchtet ... Den Stummen hat er die Zunge gelöst, die nicht in der Lage waren und es nicht wagten, ihren verworrenen Gedanken Ausdruck zu verleihen. 28
Als Kind, so erinnert er sich in De Immenso et Innumerabilibus (1591, Das Unermessliche und Unzählbare), einem lateinischen Gedicht, das Lukrez nachgebildet ist, als Kind habe er geglaubt, dass jenseits des Vesuvs nichts mehr sei, denn sein Auge habe nicht hinter den Vulkan schauen können. Nun aber wisse er, dass er Teil einer unendlichen Welt sei, und er könne sich und seinen Geist nicht noch einmal in die kleine Zelle sperren lassen, von der seine Kultur behaupte, dass er sie bewohne. 29
Wenn er in England geblieben wäre – oder in Frankfurt, in Zürich, Prag oder Wittenberg, wohin überall er gewandert war –, hätte er vielleicht einen Weg gefunden, in Freiheit zu bleiben, leicht wäre es aber auch in diesen Städten nicht gewesen. Doch 1591 traf er die verhängnisvolle Entscheidung, nach Italien zurückzukehren, nach Padua und Venedig, in Städte, die, wie er dachte, zu Recht für ihre Unabhängigkeit gerühmt wurden. Das erwies sich als Illusion: Von seinem Gastgeber in Venedig, den er in der Gedächtniskunst unterweisen sollte, wurde er an die Inquisition verraten, noch in Venedig verhaftet und schließlich auch nach Rom ausgeliefert – er war
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