Wende
sie sich zerstreuen ließe, und zitiert dazu Lukrez’ heiklen Rat – »Den Samen, klopft im Glied euch das erhitzte Blut / spritzt irgendeinem Leib ein, denn das kühlt die Glut« – und fügt seinerseits hinzu: »und man rät es uns zu Recht, denn ich habe das oft erfolgreich ausprobiert«. (»Über die Ablenkung«, III.4, S. 416) Und bei seinem Versuch, alle Verlegenheit und Scham überwindend, die wirkliche Erfahrung des Geschlechtsakts einzufangen, hält er fest, dass keine Beschreibung, die je in Worte gefasst wurde, großartiger sei als Lukrez’ Verse über Venus und Mars, die er in »Über einige Verse des Vergil« zitiert:
... quoniam belli fera moenera Mavors
armipotens regit, in gremium qui saepe tuum se
reiicit aeterno devictus vulnere armoris,
atque ita suspiciens tevete cervici reposta
pascit amore avidos inhians in te, dea, visus,
eque tuo pendet resupini spiritus ore. hunc tu,
diva, tuo recubantem corpore sancto
circumfusa super, suavis ex ore loquellas
(Lukrez, 1:33ff.)
Er, der die wildtobenden Dinge des Krieges lenkt, der waffengewaltige Mars, lehnt oft sich sanft an deinen Busen; von der Wunde ewiger Liebe bezwungen, verzehrt er mit begehrendem Blick deine Gestalt, den Kopf zurückgeworfen, schaut er begehrend zu dir empor, mit ganzer Seele hängt er an deinen geöffneten Lippen. So umarme ihn, Göttin, lass’ ihn, wie er bei dir liegt, sich mischen mit deinem heiligen Leib; lass’ süße Worte deinem Mund entströmen. 4
Montaigne zitiert die lateinischen Verse, macht erst gar nicht den Versuch, diese Beschreibung in sein Französisch zu übertragen, hält nur inne und bewundert ihre Vollkommenheit – »Nicht mit einer bloß schönrednerischen Eloquenz, einer Eloquenz ohne Biss haben wir es also zu tun; sie ist vielmehr muskulös und markig, weniger gefällig als packend und mitreißend, und am stärksten reißt sie die stärksten Geister mit.« (III.5, S. 436)
Es gibt – allerdings sind sie selten und mächtig – Augenblicke, in denen ein Autor, der längst vom Erdboden verschwunden ist, direkt vor uns zu stehen, uns direkt anzusprechen scheint, als habe er eine Botschaft, die vor allen anderen an uns gerichtet ist. Eine derart intime Verbindung zu Lukrez muss Montaigne gespürt haben, eine Verbindung, die ihm half, mit dem Gedanken umzugehen, dass auch er eines Tages verschwunden und ausgelöscht sein würde. Einmal sah er, wie er sich erinnerte, einen Mann sterben, der sich in seinen letzten Augenblicken bitter beklagte, dass das Schicksal ihn daran hindere, das Buch zu vollenden, an dem er gerade schrieb. Wie absurd dieses Bedauern ist, sieht Montaigne treffend eingefangen in Lukrez’ Versen:
Illud in his rebus non addunt, nec tibi earum
Iam desiderium rerum super inside tuna.
... doch fügt man nicht hinzu: Und du selber, du bist jetzt aller Sehnsucht ledig nach all dergleichen Genüssen.
(Lukrez, 3:900f.)
Was ihn selbst angehe, so schreibt Montaigne:
Ich will, dass der Tod mich beim Kohlpflanzen antreffe – aber derart, dass ich mich weder über ihn noch gar über meinen noch unfertigen Garten gräme.
(»Philosophieren heißt sterben lernen«, I.20, S. 49.)
Unbesorgt um den Tod zu sterben war, wie Montaigne begriff, ein weitaus schwieriger zu erreichendes Ziel, als man denken möchte. Er musste alle Kräfte seines weit ausgreifenden Geistes zusammennehmen, um zu vernehmen und zu befolgen, was er als Stimme der Natur hörte und empfand. Und diese Stimme sprach, wie er sich vorstellte, vor allem anderen in den Worten von Lukrez:
Wie auch immer – die Natur zwingt uns zu sterben. Verlasst diese Welt, sagt sie, wie ihr in sie eingetreten seid. Denselben Weg, den ihr ohne Furcht und Schrecken vom Tod zum Leben gegangen seid, geht ihn zurück nun vom Leben zum Tod! Euer Tod ist ein Teil der Ordnung des Alls, er ist ein Teil des Lebens der Welt. »Unter allen, die da sterblich sind, kreist doch das Leben, weil sie sich, den Läufern gleich, die Fackel weitergeben.«
(I.20, S. 50; Lukrez 2:78f.)
So sah Montaigne in Lukrez den sichersten Führer zum Verständnis dessen, wie die Dinge sind; mit ihm ließ sich das Selbst so weit bringen, dass es ein Leben voller Lust leben und dem Tod mit Würde begegnen konnte.
Auf einer Auktion im Jahr 1989 konnte Paul Quarrie, damals Bibliothekar des Eton College, für £250 eine Ausgabe der prächtigen Edition von De rerum natura erwerben, die Denys Lambin 1563 herausgebracht hatte. Der Katalog vermerkte, der Vorsatz dieses
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