Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
dann am Wolfsgehege geschehen war, hatte ihm einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Er hatte der gefühllose, überlegene Forscher sein wollen, der mit seinem leistungsgesteigerten Intellekt die Denkprozesse in den Wolfsgehirnen kühl analysierte und sezierte. Statt dessen hatte die enorme emotionale Kraft der Wölfe ihn überwältigt. Wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden war er an den Zaun getaumelt, völlig erfüllt von der Sehnsucht, mit diesem symbiotischen, pulsierenden Organismus des Rudels zu verschmelzen und selbst zum Wolf zu werden.
Erst als er die erstaunten Blicke der Leute bemerkt hatte, war es ihm irgendwie gelungen, sich loszureißen. Doch damit war der Alptraum noch nicht vorüber gewesen. Während er zurück zum Parkplatz rannte, tauchte vor seinem inneren Auge plötzlich das Bild eines Wolfs auf. Es war keine äußere Halluzination, sondern ganz eindeutig ein Bild in seinem Kopf: ein riesiger wütender Wolf, der ihn aus gelb leuchtenden Augen böse anfunkelte, drohend die Zähne fletschte und lautstark knurrte. Erst als er im Wagen saß, verschwand das Gespenst so abrupt wieder, wie es erschienen war.
Scholl hatte Halluzinationen gehabt. Doch dieses Problem war eliminiert. Unmöglich, daß Halluzinationen auftraten. Ausgeschlossen.
Er fuhr wieder an der Autobahnbaustelle vorbei. Dies-mal mußte er sich gar nicht besonders konzentrieren, um den Schmerz der Tiere und Pflanzen zu spüren, deren Lebensraum zerstört wurde. Die Empfindungen fielen regelrecht über ihn her, so heftig, daß ihm Tränen in die Augen schossen. Verdammter Mist! Ein bohrender Schmerz pochte in seinem Hinterkopf. Er trat aufs Gaspedal in der Hoffnung, daß der Druck nachlassen würde, wenn er sich wieder von der Baustelle entfernte, doch dem war nicht so.
Er zuckte plötzlich so heftig zusammen, daß er beinahe die Kontrolle über den Wagen verloren hätte. In seinem Kopf hatte sich etwas bewegt, etwas Fremdes . Es war wie eine Stoßwelle, die seine Gehirnzellen erschütterte. Etwas wollte herein, wollte in sein Denken eindringen. Etwas von außen… Oder kam es von innen, aus einer unbekannten Tiefe? Da war die Vision einer Röhre oder eines Schachtes. Etwas kletterte darin nach oben, etwas Großes, Dunkles. Mein Gott, Scholl hatte damals etwas von einem Tor gefaselt, das Megatonin angeblich öffnete, und von einem Etwas, das dahinter lauerte. Aber Scholl hatte halluziniert.
Gablenz raste auf das Ortsschild von Jünkersdorf zu und bog mit kreischenden Reifen in den Waldweg ab. Halluzinationen! Verdammt! Er war sicher gewesen, alle diese störenden Effekte beseitigt zu haben. Etwas wollte durch das Tor. Etwas wollte die Kontrolle übernehmen. Ich muß mich hinlegen, dachte er, mich entspannen. Einen Tranquilizer nehmen, um diese Nebenwirkung zu dämpfen. Er würde das in den Griff bekommen, er war sicher, daß es sich in den Griff bekommen ließ. Er bremste so ungeschickt vor der Jagdhütte, daß der Wagen mit der Beifahrertür laut quietschend an einem Baum vorbeischrammte. Ein ungeheurer Druck in seinem Kopf. Etwas drängte nach oben, wollte ihn aus seinem eigenen Kopf vertreiben. Eine Halluzination. Nichts weiter.
Er stieg aus dem Wagen, und im selben Moment erreichte das dunkle Wesen das obere Ende des Schachtes. Es stieg durch das weitgeöffnete Tor und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Es sah aus wie ein Bär, ein riesiger Bär. Ohne Vorwarnung griff der Bär an. Gablenz stieß einen entsetzten Schrei aus, als das Wesen sich auf ihn stürzte. Er fiel hin, schlug der Länge nach auf dem Waldboden auf. Er vermochte nicht zu sagen, ob das Etwas sich in seinem Kopf befand oder ihn real von außen angriff. Er spürte den Hieb mächtiger Pranken und sah ein Raubtiergebiß aufblitzen.
Dann umfing ihn Dunkelheit. Er stürzte in den Schacht, aus dem das Wesen emporgeklettert war, fiel schneller und schneller in eine offenbar bodenlose Tiefe. Irgendwann verschwand das Gefühl des Fallens. Jetzt schwebte er in einer undurchdringlichen Schwärze. Es war eine absolute Finsternis, so finster wie das All gewesen sein mußte, ehe der erste Stern darin aufleuchtete. Doch Gablenz war nicht allein. Er spürte, wie jemand seine Schuld abwog. Seine Schuld war alles, was ihm in dieser Dunkelheit geblieben war. Nach einer Ewigkeit sah er Bilder, Bilder seines Lebens, Wendepunkte, an denen er sich falsch entschieden und Schuld auf sich geladen hatte. Ein Licht tauchte weit vor ihm in der Finsternis auf, ein warmes Licht,
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