Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
das aus der Öffnung eines anderen Tunnels schien. Als er seine Fehler eingesehen hatte, fühlte er sich vollkommen schwerelos und trieb wie eine Feder im Wind auf das Licht zu.
Der große, kräftige Männerkörper mit den schütteren roten Haaren hatte sich wie in einem Krampfanfall auf dem Waldboden gewunden, mit Schaum vor dem Mund, war dann abrupt erschlafft. Mehrere Minuten vergingen, in denen der Körper dalag wie tot, starr in den Himmel blickend.
Dann setzte er sich auf. Ein Eichhörnchen kam aus einem Baum herab, beäugte ihn, kletterte an ihm hoch und setzte sich auf seine Schulter. Er lächelte und streichelte behutsam das rotbraune Fell. Ein Häher strich heran und landete auf seinem Unterarm. Wieder lächelte er. „Habt mich gleich erkannt in meiner neuen Gestalt“, sagte er. „Sagt euren Brüdern und Schwestern, daß ich heraufgekommen bin, um Gericht zu halten.“
Häher und Eichhörnchen verschwanden. Er stand auf, ging in den Werkzeugschuppen hinter der Hütte und suchte eine Drahtschere.
2. KAPITEL
S üdlich von Buchfeld wölbte sich der Dachsberg dem Himmel entgegen. Seine Hänge waren bewaldet, die Kuppe selbst jedoch war kahl, so daß man von dort einen weiten Blick über die Eifelhöhen hatte. Chris Adrian saß im Traum oben auf der Kuppe, in der Nähe der Hügelgräber, während ihr Körper sich im Bett unruhig hin und her bewegte. Allmählich merkte sie, daß sie nicht allein war. Ein Tier saß dicht bei ihr. Sie schaute es an, sah dichtes, seidiges, im Sternenlicht silbern schimmerndes Fell. Sie erkannte, daß es ein Wolf war, ein großer, wunderschöner Wolf, und verspürte den unwiderstehlichen Drang, ihn zu streicheln. Tatsächlich stand er auf, kam ganz nah zu ihr heran und reckte wohlig seinen mächtigen Körper, als Chris ihm den Nacken kraulte. Der Eindruck war so real, daß sie glaubte, sein Fell unter ihren Fingern zu spüren.
Plötzlich schien die Erde vor Chris’ Augen in flimmernde Bewegung zu geraten. Ein Loch tat sich auf, ein Schacht, der senkrecht in einen rätselhaften Abgrund führte. Chris wollte aufspringen und weglaufen, doch sie konnte nicht. Von dieser schwarzen Öffnung ging eine geradezu magnetische Anziehungskraft aus. Der Wolf neben ihr hob den Kopf und heulte.
Der Drang, zu dem Loch zu kriechen, wurde unwiderstehlich. Als Chris sich über den Rand beugte, sah sie unendlich tief unten ein schwaches, rötliches Leuchten. Und über diesem Leuchten bewegte sich im Schacht ein Schatten. Etwas kletterte aus der Tiefe herauf.
Chris wollte fliehen. Aber sie konnte sich nicht rühren, ihre Beine waren wie gelähmt. Zu ihrer Erleichterung lief der Wolf herbei und stellte sich dicht neben sie, so daß sie sein warmes, weiches Fell an ihrer Schulter spüren konnte. Er stieß ein kurzes, heiseres Bellen aus.
Aus dem Loch waren jetzt schabende, kratzende Geräusche zu hören – wie von Krallen, die sich an den Wänden des Schachts emporarbeiteten. Ein runder Kopf tauchte auf, dann ein massiger Körper. Ein riesiges schattenhaftes Geschöpf stieg aus dem Schacht und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, so daß seine an einen auf den Hinterbeinen stehenden Bären erinnernde Gestalt die Sterne verdeckte.
Chris wagte kaum zu atmen, aus Angst, von einem einzigen Hieb der mächtigen Pranken zerschmettert zu werden. Doch zu ihrer Überraschung sagte das Wesen mit einer Stimme, die tief und sanft über die Hügel rollte: „Es ist gut, daß du zurückgekommen bist, Schwester Wolfsträumerin. Hast dein Land lange warten lassen.“
Chris erwachte und setzte sich auf. Der Wolf war ihr vertraut erschienen wie ein alter Freund, aber das Bärenwesen hatte ihr solche Angst eingejagt, daß sie halb fürchtete, es könne hier in ihrem Zimmer neben dem Bett stehen. Rasch schaltete sie das Licht ein, rieb sich die Augen und lauschte. Im Forsthaus war es völlig still. Draußen hörte sie den Wind leise in den Zweigen flüstern. Sie war ganz allein in dem großen Haus, ganz allein im Park. Die Wegmeiers befanden sich auf Wohnmobilrundreise in Neuseeland, und die Tierpfleger wohnten in den umliegenden Dörfern.
Das war einer von diesen Träumen gewesen. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr hatte sie einen solchen Traum, einen Traum, bei dem alles so klar und deutlich war, als handele es sich bei den Bildern und Empfindungen um körperlich greifbare Realität. Ich will sie nicht, dachte sie, diese Träume, die einem den ganzen Tag über im Gedächtnis bleiben, ja sogar
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