Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
gepflegt hatte, zurück zur Küchentür. Wenn Jonas erfährt, dass ich dieses Fernsehinterview gegeben habe, bekommen wir den größten Krach unserer bisherigen Beziehung, dachte sie und ging in ihr kleines Arbeitszimmer. Dort setzte sie sich hinter den wie immer unaufgeräumten Schreibtisch und holte Silver Bears Abschiedsbrief aus der Schublade. Alter, verrückter Indianer, dachte sie. Du bist schuld, dass ich nur gerade höchstwahrscheinlich meine berufliche Zukunft ruiniert habe. Sie schloss die Augen und für einen Moment befand sie sich wieder in Kanada . Sie erinnerte sich an einen Frühlingsabend, an dem sie mit Silver Bear langsam durch das zerstörte heilige Land seines Volkes gegangen war. Der Lärm der Motorsägen und Bulldozer war verstummt, die Luft erfüllt vom süßlichen Harzgeruch gefällter Bäume. In den folgenden Tagen hatte Chris hilflos mit ansehen müssen, wie der hoch gewachsene weißhaarige Medizinmann zum gebrochenen, gebeugten Greis wurde, dessen Wurzeln zerstört waren. Als vor sechs Wochen ein Brief aus Kanada gekommen war, ahnte Chris, was er enthielt. Silver Bears Tochter schrieb, ihr Vater sei zuletzt so schwach gewesen, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Eines Morgens hätte er darum gebeten, zu einer bestimmten Stelle im Wald gefahren zu werden, einem besonderen Hügel. Dort sei er dann friedlich eingeschlafen.
Neben dem Brief von Silver Bears Tochter enthielt das Kuvert die letzte Botschaft des alten Medizinmanns an seine weiße Schülerin. Chris hatte diese Botschaft in den vergangenen Wochen immer wieder gelesen, in der Hoffnung, dadurch größere Klarheit über ihren zukünftigen Weg zu gewinnen. Jetzt hielt sie das Blatt Papier erneut in der Hand, betrachtete das Medizinrad, das Silver Bear mit Filzstiften auf die Rückseite gemalt hatte, drehte das Blatt um und las seine klare, sichere Schrift. Seine Hand hatte bis zuletzt nicht gezittert, und die Worte waren in tadellosem Englisch geschrieben, das er besser beherrscht hatte als die meisten weißen Kanadier.
Schwester Wolfsträumerin,
wenn du meinen Brief erhältst, werde ich fort sein. Meine Stimme wird in den Zweigen der sterbenden Bäume flüstern und mein Leib in der Geisterwelt wandern. Im Grunde bin ich ja immer schon ein Wanderer zwischen den Welten gewesen. Viele traditionelle Indianer betrachteten mich als Verräter, weil ich unser altes Wissen an Weiße weitergab. Und andererseits war ich nicht sonderlich erfolgreich in meinem Bemühen, möglichst viele Weiße in der Kunst auszubilden, wie man auf fruchtbare Weise mit der Erde kommuniziert. Ich hatte immer gehofft, wenn ich nur die richtigen Worte fände, würden viele Menschen mir zuhören - und mich verstehen. Doch es haben mir nur wenige Weiße zugehört, und noch weniger haben mich verstanden. (Unter diesen warst du, meine schöne Wolfsträumerin, mir besonders lieb und teuer.) Die meisten Weißen (und immer mehr Indianer) wollen nicht zuhören und wollen nicht verstehen. Die alte Tradition, in der ich aufwuchs, stirbt aus. Meine Hoffnung ruht jetzt auf dir, Chris, und meinen anderen in der weißen Kultur aufgewachsenen Schamanenschülern. Um unsere Beziehung zur Natur zu heilen, müsst ihr neue Wege finden, Mensch und Erde zusammenzubringen, die mehr dem modernen menschlichen Bewusstsein entsprechen. Ich danke dir für die Zeit, die du mit mir geteilt hast. So weit ich es vermag, werde ich dir aus der Geisterwelt Hilfe schicken, wann immer du sie benötigst. Zögere also nicht darum zu bitten. Wir werden uns wiedersehen.
SilverBear
Wie sollte sie die Hoffnung erfüllen, die Silver Bear in sie gesetzt hatte? Neue Wege, Mensch und Erde zusammenzubringen. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur heilen. Wenn sie die Arbeit, die ihr Lehrer begonnen hatte, fortsetzen wollte, musste sie an die Öffentlichkeit gehen. Nur so konnte sie andere Menschen erreichen. Schließlich leben wir im Medienzeitalter, überlegte Chris, das ist charakteristisch für das moderne menschliche Bewusstsein. Sie legte den Brief in die Schublade zurück. Noch niemandem hatte sie davon erzählt, dass Silver Bear gestorben war. Niemandem hatte sie den Brief gezeigt. Eigentlich hätte ich wenigstens mit Susanne darüber sprechen können, als ich in Köln war, dachte sie. Warum meine ich immer, mit solchen Dingen ganz allein fertig werden zu müssen? Das war es ja, was Jonas ihr oft vorwarf. Dass sie ihn nicht wirklich an ihrem Leben teilnehmen ließ, daran, was in
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