Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
Überlebenskünstler«, meinte Tönsdorf, während sie zum Lift gingen. »Der findet immer ein halbwegs warmes Plätzchen.«
Hannes und Karla hatten sich bei einem Lüftungsschacht in der Nähe des Hauptbahnhofs verkrochen, gar nicht weit vom Dom entfernt. Auf der Fahrt dorthin erzählte Tönsdorf, dass Hannes vor vielen Jahren Matrose gewesen war. Karla stammte aus Kalk, wo sie ihre Kindheit in völlig asozialen Verhältnissen zugebracht hatte. »Sie hat sogar mal das Abitur nachgemacht«, sagte Tönsdorf, »aber dann hat der Dreck, vor dem sie fliehen wollte, sie wieder eingeholt. Und heute irrt sie mit Hannes durch die Stadt und säuft sich tot.«
Er räusperte sich und zündete sich rasch die nächste Zigarette an. Susanne kurbelte das Seitenfenster ein Stück weiter herunter. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, hielt Tönsdorf an einem Taxistand und führte Susanne durch eine ganz aus Beton bestehende Umgebung, in der zahlreiche Spraydosen-Liebhaber sich ausgetobt hatten. Die Luft war erfüllt vom Lärm anrollender und bremsender Züge.
Zwei Streifenpolizisten erwarteten sie, der eine kam ihnen ein Stück entgegen. »Der Hannes ist tot«, sagte er aufgeregt über den Lärm hinweg. Er wirkte sehr jung und unerfahren.
»Scheiße!«, stieß Tönsdorf hervor, »bist du sicher?«
»Er ist eiskalt. Kein Puls.«
»Oh, Mann, das tut mir Leid.« Tönsdorf schnaufte, biss sich auf die Unterlippe und wandte sich ab.
Susanne ließ, ihn einen Moment in Ruhe. Sie nickte dem zweiten, etwas älteren Beamten zu, ging ein paar Schritte weiter. Neben dem durch ein grünes Eisengitter abgedeckten Schacht sah sie das Obdachlosenpärchen. Den Mann, der dort auf dem Boden lag, schätzte Susanne auf Mitte fünfzig. Sein Gesicht war weiß, der eingefallene, von einem struppigen Bart umrahmte Mund stand offen.
Die Frau war klein und schmächtig, ungefähr zehn Jahre jünger als er. Ihr aufgedunsenes Alkoholikergesicht schien einmal hübsch gewesen zu sein, ebenso ihr Haar. Sie starrte ins Leere und Susanne fragte sich, ob sie ihre Anwesenheit überhaupt bemerkte.
Sie ging in die Hocke, wartete einen Moment, bis der Lärm eines aus dem Bahnhof auf die Hohenzollernbrücke rollenden Zuges sich entfernte und sagte dann: »Karla? Ich bin Hauptkommissarin Wendland. Ich möchte gerne, dass Sie mit uns kommen.«
Karla hob den Kopf. »Hannes schläft heute länger als sonst«, sagte sie mit schwerer Zunge. »Ich habe Angst, dass er gar nicht mehr wach wird.« Sie schaute nach hinten, wo der Dom über ihnen aufragte. »Was mache ich, wenn er nicht aufwacht? Wer geht dann mit mir zum Dom?«
»Es tut mir Leid, Karla. Hannes wird nicht mehr aufwachen«, sagte Susanne. »Es ist besser, wenn Sie mitkommen.«
Karla schaute auf den Toten hinunter. »Er hat gesagt, er ist müde.«
Wieder rumpelte über ihnen dröhnend ein Zug, auf der Rheinuferstraße brauste der Verkehr, auf dem Fluss tuckerten die Dieselmotoren der Frachtschiffe. Tönsdorf kam und stellte sich neben Susanne. Zum ersten Mal war sie froh über seine Anwesenheit. »Wenn du lieb bist und mitkommst, geh ich heute Abend mit dir zum Dom, Karla. Versprochen.«
Karla überlegte einen Moment. Schließlich sagte sie: »Gut.« Sie schaute Susanne an und streckte ihre Hand aus. Susanne zögerte, dann nahm sie die Hand, die klein, schmutzig und eiskalt war. Wie ein ängstliches Kind schlurfte Karla mit ihr zum Wagen.
Jonas ahnte schon, dass der Brief von der Kreisverwaltung nichts Gutes bedeutete. Jetzt schaute er vom Sofa im Wohnzimmer aus, auf dem er ein kleines Nachmittagsschläfchen gehalten hatte, in die Küche und sah, wie Chris, die gerade hereingekommen war, den Brief aufriss. Während sie las, verfinsterte sich ihr Gesicht zusehends. Sie war seit dem frühen Morgen unterwegs gewesen, hatte mit dem Landrover in Gerolstein einen Damhirsch abgeholt, der das Rudel hier im Eifelwildpark ergänzen sollte, und trug noch ihre karierte Holzfällerjacke.
Wütend knallte sie den Brief auf den Tisch. »Dieser blöde Idiot!«, rief sie und stürmte nach draußen in den Garten, ohne die Hoftür hinter sich zuzumachen, so dass ein eisiger Luftzug durch die Wohnung wehte. Jonas stöhnte, stand auf, ging in die Küche und warf die Tür zu. Durchs Fenster sah er Chris draußen auf der Wiese durch den frischen Schnee stapfen. Es hatte bereits getaut, doch vor zwei Tagen war es plötzlich wieder deutlich kälter geworden.
Er nahm den Brief und las. Vom Landrat, wie er befürchtet hatte. »...
Weitere Kostenlose Bücher