Weniger sind mehr
Wirklichkeit sich zusehends durch. Das ist die Tragik nicht nur der Eva Herman, sondern der modernen Frauen schlechthin. Es lässt sich überall ablesen: in den Erklärungen der Regierung und in ihren Maßnahmen; im Familienbericht für diese Regierung, an dem die Crème der einschlägigen und tonangebenden Sozialwissenschaftler mitgearbeitet hat; in dem allmählichen Umschwenken auch der konservativen Parteien; an dem allgemeinen Konsens, dem sich niemand mehr entziehen kann, der nicht den Vorwurf, ein Dinosaurier zu sein, auf sich ziehen will. Alles weist in eine Richtung. Alles drängt durch einen Tunnel. Und als Licht an dessen Ende sehen alle: das doppelverdienende, berufstätige und gleichwohl mindestens zwei Kinder in die Welt setzende Paar. Vorbild Skandinavien und Frankreich. Rolle der Politik: alle Maßnahmen ergreifen, die diese Lebensform über außerhäusliche und häusliche Kinderbetreuung, direkte Subventionen und Steuererleichterungen, flexible Arbeitsplatz- und Arbeitszeitregelungen herbeiführen können.
Was dieses Generalmodell zukünftiger Lebensformen, auf das nun alles hinausläuft, auch seinen Wortführern verschweigt: Es schreibt genau die Überlastungssyndrome für Frauen fort, die schon für die Gegenwart kennzeichnend sind. Die Hoffnung, dass allein staatliche Kraftanstrengungen diese Überlastung und die darin enthaltenen Spannungen auflösen, scheint höchst trügerisch. Und doch muss der Versuch gewagt werden – besonders weil man keine andere Idee hat. Wie in einem Laborexperiment an unseresgleichen werden wir Zeuge, wie der Versuch ausgehen |258| wird. Entweder werden die Frauen, die nach wie vor die Leidtragenden sind, sich wehren. Oder sie werden sich weiterhin durch Verzicht auf Kinder entlasten. Vielleicht verschaffen ihnen die neuen Geldflüsse und Institutionalisierungen tatsächlich Entlastung, eventuell sogar so weit, dass der Fall der Geburtenrate aufgehalten wird und sich gar umkehrt. Man darf gespannt sein, was passieren wird.
In einer Gesellschaft, die von der Politik erwartet, dass sie etwas tut, steht diese unter Zugzwang. Sie orientiert sich an Familienleitbildern beziehungsweise Lebensformen, die den zukünftigen Wählern gefallen. Das ist die Doppelverdiener-Partnerschaft mit zwei Kindern – double income, two kids – mit der Möglichkeit, individuell nach allen Seiten von diesem Leitbild abzuweichen. Ob die politisch-finanzielle Unterfütterung dieser Vorstellung tatsächlich zu mehr Kindern führt, bleibt abzuwarten. Anstieg und Fall der Geburtenrate, das kann nicht oft genug wiederholt werden, stehen in tieferen und weiteren Zusammenhängen als dem zwischen Politik und Familie.
Das neue politische Leitbild ist der alten Hausfrauenfamilie diametral entgegengesetzt. Der Gegensatz könnte nicht größer sein. Das wird oft übersehen, weil sich de facto allerhand Zwischenformen und Kompromisse herausbilden. Aber der Grundgegensatz bleibt. Es ist ein Gegensatz der Aufgaben- beziehungsweise Arbeitsteilung. Die gewohnte Hausfrauenehe enthält eine klare Funktionentrennung zwischen den Geschlechtern: Die Frau erledigt die Aufgaben im Haus und zieht die Kinder groß; der Mann unterhält die Familie durch seinen – meist außerhäuslichen – Beruf und bindet sie ins öffentliche Leben ein. Im neuen Leitbild wird die geschlechtliche Arbeitsteilung völlig aufgehoben. Jetzt soll jeder alles machen. Frau und Mann sollen ihre Lebenssphären nicht durch unterschiedliche Aufgaben abgrenzen. Stattdessen teilen sie jede einzelne Aufgabe und haben an jeder Aufgabe teil. Dahinter steht nicht mehr eine Ethik der Arbeitsteilung, sondern eine solche der vollständigen Partizipation aller an allem.
|259| Hinter dieser Idee der Nichtarbeitsteilung stehen wunderbare moralische Konzepte. Zunächst das Konzept der individuellen Vielseitigkeit. Schon der junge Marx hatte davon geschwärmt, dass die Menschen der Zukunft morgens arbeiten und lesen, nachmittags fischen und jagen würden und nicht enge Spezialisten einer Sache wären. 4 Zum anderen ist es das Konzept der Gleichheit: Männer und Frauen sollen gleichermaßen am häuslichen wie am außerhäuslichen Leben teilhaben. Zum dritten das Konzept des Ausgleichs: Angenehmes und Unangenehmes, Genüsse und Belastungen, ob im Beruf, im Haus oder mit Kindern sollen auf Frauen und Männer gleichermaßen verteilt sein. Diese moralischen Gefüge erheben das Herz. Sie sprechen uns als Menschen und Individuen an.
Was wir dabei vergessen: Sie
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