Weniger sind mehr
individuellen Lebens; und, mit beidem zusammenhängend, die liebevolle und liebessteigernde Konzentration der Familienbindungen auf wenige Menschen, die eine immer länger werdende Lebensspanne miteinander teilen. Auch mit zwei Kindern oder nur einem enthält die Familie beides: die Liebe zwischen Mann und Frau und die zwischen Eltern und Kindern. Mehr braucht sie nicht, um sich als emphatisch gesteigerte Liebesgemeinschaft zu erhalten und fortzudauern.
Was aber geschieht, wenn die Zahl der Kinder in einer Familie auf null sinkt? Logischerweise geht dabei ein wichtiger Typus der Liebe, die Liebe zwischen den Generationen, in die Zukunft hinein verloren. Daraus folgt zum einen: Die Liebe zwischen den Generationen wendet sich zurück zu den Eltern, solange diese leben; und/oder sie verwandelt sich in eine Paarliebe und kann in der äußersten und exklusiven Konzentration auf den Partner/ die Partnerin noch eine emphatische Steigerung finden. Dies hat seinen Preis darin, dass die Kleinstfamilie zu bestehen aufhört, wenn eine der beiden letzten Personen, die sie noch halten, stirbt.
So weit die Logik. Die Sozio-Logik führt auf ganz andere Wege. Als empirische Wissenschaft fragt sie zunächst nach den Beziehungen und Institutionen, so wie die Menschen selbst sie verstehen. Dadurch beschert sie uns eine erste große Überraschung. Entgegen unseren Vorurteilen, logischen Ableitungen und den Statistiken, die angesichts von Trennungen, Scheidungen und Geburtenrückgang allesamt auf eine Verkleinerung der Familie hinauslaufen, wird die Familie nicht kleiner, sondern größer!
Wie ist das zu erklären? Und wie lässt es sich mit der These vereinbaren, dass immer mehr Familien mangels eigener Kinder einfach zu bestehen aufhören? Tatsächlich gehören diese beiden scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen zusammen. Denn, so paradox es klingt: Auf ihre Verkleinerung antwortet die Familie mit Vergrößerung. Die
Erweiterung der Familie durch Verwandtenwahl
|124| ist einer von drei Mechanismen der Selbsterhaltung. Die beiden anderen Mechanismen sind die
Verringerung der Zahl der
Kernfamilien
und die
Erhöhung familialer Qualität
. Betrachten wir die drei Mechanismen im Einzelnen.
Beginnen wir mit der
Erweiterung durch Verwandtenwahl.
Einzelgänger und Paare ohne Kinder, gerade wenn sie selbst Einzelkinder sind, also keine Geschwister mehr haben, stehen natürlich in der Gefahr, besonders im Alter allein zu bleiben und ihre Familie um sich herum zu verlieren, bevor sie selbst, sterbend, nicht nur unter ihre persönliche, sondern auch unter eine Familiengeschichte den Schlussstrich ziehen. So lange sind sie aber immer noch Bestandteil einer Herkunftsfamilie mit Cousins, Großneffen und anderen entfernteren Verwandten sowie hinzugewählten Vertrauten, die sie zu ihrer Familie »machen«.
Denn wer zur Familie gehört, entscheiden nicht Biologen, Demografen und Statistiker aufgrund vorgefasster Kriterien, sondern die Beteiligten selbst, indem sie sich gegenseitig Liebe, Intimität und Halt schenken, also die zentralen Familienfunktionen erfüllen. Mit der gegenseitigen Wahl als Ehepartner entsteht eine institutionalisierte Wahlverwandtschaft, die so entscheidend ist, dass oft von »Familiengründung« gesprochen wird. Es gibt aber auch Wahlverwandtschaften, die weniger dramatisch den Aspekt der Wahl betonen. Stattdessen nehmen sie vorhandene, nicht gewählte Verwandtschaftsbeziehungen zum Anlass, um die eine oder andere durch einen oft unbetonten, nicht ritualisierten Wahlakt zu erhöhen. »Onkel Richard gehört bei uns zur Familie«, heißt es dann, oder: »Mit Müllers mache ich so viel zusammen, und wir verstehen uns so gut – die haben mich quasi adoptiert!«
Im Abstand von 50 Jahren wiederholte das Allensbacher Institut für Demoskopie die Frage: »Wen rechnen Sie zu Ihrer Familie?« Es zeigt sich: Aufs halbe Jahrhundert gesehen gehen Ehegatten der Familie verloren – die Nennungen fallen von 70 auf 58 Prozent; das mag auf eine größere Zahl von Trennungen und Scheidungen und auf einen zunehmenden Anteil von älteren verwitweten Personen |125| zurückzuführen sein. Dagegen werden Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Onkel und Tanten und andere Verwandte heute häufiger zur Familie gezählt als damals. Auch Alleinstehende und Menschen ohne Kinder können, sich an Verwandte und Freunde anschließend, ihre Familie »machen«. Es fehlen leider Daten, um diese Wahlverwandtschaften konkret zu ermitteln. Genauer wissen wir
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