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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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unterschiedlichen Leitwerte, Größenordnungen und inneren Ordnungen auf Dauer Bestand haben werden. Ebenso spannend ist auch die Frage, wie sich die Familie als Lebenssphäre oder Funktionssystem insgesamt in der Auseinandersetzung mit anderen Lebenssphären – Wirtschaft, Politik et cetera – behaupten kann; alle diese Lebenssphären konkurrieren ja um die Energien der einzelnen Menschen ebenso wie um die der Gesellschaft. Mit Blick auf die Familien anderer Kulturen ebenso wie mit Blick auf andere Lebenssphären innerhalb der eigenen Kultur steht »die« Familie als ein System, das die einzelnen Familien übergreift, also in einem Bestandskampf. In ihm scheitern einzelne Familien, und diese Verringerung der Familienzahl insgesamt lässt die beständigeren übrig und sichert so den Bestand des Familiensystems als ein Ganzes.
    Diesen Vorgang können wir, analog zur Wirtschaft, als einen Übergang von Quantität zu Qualität bezeichnen. Einen Wertakzent nicht scheuend, kann man von
Qualitätserhöhung
sprechen. Das ist der dritte Mechanismus der Selbsterhaltung des Systems. Wie er die Wirtschaft wirtschaftlicher macht, so macht er die Familie familialer. »Familiale Qualitätssteigerung«: ein merkwürdiger |128| Begriff, der den Verdacht nach eingebauten Vorwegwertungen nahelegt. Es ist deshalb notwendig, genauer zu umschreiben, was mit Qualitätserhöhung gemeint ist: zum einen eine verstärkte Konzentration auf Liebe und emotionalen Halt als zentrale Funktionen der Familie; zum anderen Konzentration auf wenige Personen mit intensiven Gefühlsbeziehungen; drittens Konzentration auf diejenigen, die trotz steigender Widerstände beziehungsweise verlockender Alternativen »Familiengründer« werden.
    Familien, die alle »niederen« Aufgaben des Zusammenlebens wie die Produktion von Gütern, die finanzielle Versorgung in Alter und Krankheit, Pflegedienste, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, aber auch Ausbildung, Beten, Sport, manchmal auch die Sexualität an andere Lebenssphären abgegeben haben und sich ganz auf Liebe, Verständnis und seelische Unterstützung der Angehörigen spezialisieren, können es in dieser Hinsicht zu ungeheurer Intensität bringen, die immer noch steigerungsfähig erscheint. Andererseits wachsen aber auch die Risiken dieser Spezialisierung: Wenn die steigenden Ansprüche an die letzte verbliebene Kernfunktion nicht erfüllt werden – was wegen der Steigerung selbst, der Verlängerung der individuellen Lebenszeiten und der chronischen Instabilität jeder auf Emotionen basierenden Beziehung wahrscheinlich ist –, droht der Familie ganz und gar der Boden entzogen zu werden. Zu erhalten ist sie dann nur durch besondere Anstrengungen der Familienangehörigen; durch Rückgriff auf die früheren Familienfunktionen, die zwar heute eher abgewertet sind, aber als gemeinsames Wohnen, Steuersparen, Auftreten in der Öffentlichkeit und/oder im Freundeskreis eine enorme praktische Haltbarkeitswirkung bewahren können; oder durch Trennung und Scheidung.
    Sie haben richtig gelesen: Trennung oder Scheidung demonstrieren zwar das offizielle Scheitern oder Ende einer Kernfamilie. Inoffiziell oder untergründig bleiben aber Bindungen – und seien es Bindungen des Hasses – bestehen. Wichtiger ist aber, ob Trennung und Scheidung zum Trotz die zentralen Leitwerte |129| der Familie in den Köpfen ihrer Mitglieder Bestand haben. Das scheint vielfach der Fall zu sein. Mit der Scheidung wird ja die Idee und Wunschvorstellung einer liebevollen Familie nicht an sich aufgegeben. Es wird nur ihr Scheitern im konkreten Falle eingestanden. Das Scheitern kann aber gerade dadurch mitverursacht sein, dass die familialen Leitwerte in den gegenseitigen Ansprüchen der Familienangehörigen fest verankert sind – so fest, dass ihre individuellen und gemeinsamen Anstrengungen, sie zu verwirklichen, vergeblich sind.
    Nimmt man hinzu, dass eine gewaltige Kulturindustrie der Romane, Filme, Schlager den Leitwert der Liebe unablässig, im Positiven wie im Negativen, weiterbearbeitet und -trägt, dann wird verständlich, dass wir Ehe und Familie als Ideal- und Wunschvorstellung für einen zweiten, dritten, vierten Versuch aufrechterhalten, auch wenn der erste Anlauf praktisch gescheitert ist. Ob wir ledig bleiben oder uns wiederverheiraten, ob wir uns kritisch zur eigenen und zur Familie im Allgemeinen äußern oder nicht, das Liebesideal scheint uns unausrottbar verinnerlicht. Es hat die ganze Stärke kulturell tief

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