Weniger sind mehr
allerdings, dass wegen der zunehmenden Langlebigkeit sich auch Familien in die Länge dehnen und im Schnitt mehr Generationen umfassen als früher. Während damals nur wenige Menschen ihre Großeltern kennen lernten, werden es heute immer mehr, die auch ihre Urgroßeltern noch miterleben. Man spricht von »Bohnenstangenfamilien«. Die Erweiterung der Familie vollzieht sich also in erster Linie in die Länge, aber auch, durch Zuwahl, in die Breite, obwohl die Zahl der Geschwister abnimmt.
Man muss nicht in ein und demselben Haushalt wohnen, um zur Familie zu gehören. Heute ziehen es insbesondere ältere Menschen vor, nicht zu dicht mit erwachsenen Kindern und deren Kernfamilie zusammenzuleben. Als familiale Verbundenheit auf Distanz kann man das bezeichnen. Den familialen Gefühlen tut es wenig Abbruch. Trotz der zunehmenden Zahl von Ein-Personen-Haushalten fühlen sich heute nicht mehr Menschen einsam als früher. 12
Die Zahl der Familien sinkt
An dieser Stelle steht nicht im Vordergrund, was Kinderlosigkeit für den Einzelnen, sondern was sie für die Familie bedeutet. Menschen, die kinderlos bleiben, sterben als Individuen aus. Sofern sie keine Geschwister haben, hört die Kernfamilie ihrer Eltern auf zu existieren. Aber weitere Zweige der Herkunftsfamilie überdauern, und es werden immer mehr, je weiter man die Herkunftslinie zurückverfolgt. Daneben gibt es noch die Familien, mit denen eine Wahlverwandtschaft besteht.
|126| Wie sich statistisch zeigt, verteilt sich der Geburtenrückgang nicht gleichmäßig auf alle Familientypen. Die sinkende Geburtenrate verringert die Zahl der Zwei-Kinder-Familien kaum, erhöht aber die Zahl der kinderlosen Paare und Frauen. Nur in Bezug auf deren Familienzweig kann man von Aussterben sprechen, die anderen Zweige blühen weiter. Was der sich fortsetzende Geburtenrückgang heute und in Zukunft bewirkt, ist also eine
Verringerung
der Zahl der Kernfamilien
. Die Gesamtheit der Familien, also »die« Familie bleibt erhalten, reduziert nur um eine gewisse Zahl von Familienzweigen. Aus der Verringerung der Zahl der Familien zu schließen, »die« Familie sterbe aus, ist genauso abwegig wie der Schluss, die Zehntausende von Unternehmen, die jährlich durch Konkurs, Übernahme oder Fusion verschwinden, bedeuteten das Ende der Unternehmenswirtschaft.
Das Gegenteil ist richtig: Die Unternehmen, die übrig bleiben, sind die erfolgreicheren, insofern die »besseren«. Man mag darüber streiten, welches Erfolgskriterium in der Unternehmenswirtschaft das wichtigere ist: das verdiente Geld, die Rendite, der Profit einerseits oder das Verhältnis von Aufwand und Ertrag, die Wirtschaftlichkeit, die Produktivität, insbesondere die Produktivität der Arbeit andererseits. Das erste ist eher kurzfristig, das zweite eher nachhaltig, auf lange Sicht konzipiert. Das erste scheint sich mehr nach außen hin, am Markt zu bilden, das zweite eher ins Unternehmen hinein. In jedem Fall wird der Erfolg im Vergleich gemessen, sei es in direkter Konkurrenz, in der sich die Unternehmen aufeinander beziehen müssen, sei es durch wissenschaftliche Kennziffern oder andere Vergleichsmaßstäbe. Ob nun dem kurzfristigen, am Markt erzielten Gewinn eine größere Bedeutung zugemessen wird oder der sachlichen, langfristigen, innerbetrieblichen Produktivitätssteigerung: Das eine geht in der Marktwirtschaft nicht ohne das andere; in beiden Größen steckt ein Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Beide sind Ausfluss einer Denkweise und eines Leitwerts der Wirtschaftlichkeit. Der Ausleseprozess: das Ent- und Bestehen einer Reihe von Unternehmen |127| und das Scheitern von anderen, macht die Wirtschaft wirtschaftlicher. Die Quantität der Unternehmen verwandelt sich in Qualität. Und es ist die Qualität der Unternehmen, die den Bestand der Wirtschaft sichert: sowohl im Vergleich und in der Konkurrenz einer Volks- oder Staatswirtschaft mit anderen als auch im Vergleich der Wirtschaft mit anderen Systemen wie Religion, Politik, soziale Sicherung, Familie.
Es mag befremdlich sein, Ausleseprozesse im System Familie analog zu betrachten zu denjenigen im System Wirtschaft. Einzelne Familien stehen ja in modernen Gesellschaften weder in direkter Auseinandersetzung miteinander noch in einem Konkurrenzkampf um die Gunst eines Dritten. Gleichwohl kann man sagen, dass die moderne (oder europäische) Einzelfamilie als Typus in Konkurrenz steht etwa mit der arabischen Familie, und zwar hinsichtlich des Punktes, welche der
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