Weniger sind mehr
... Je größer der Abstand zwischen den Trägern der geforderten Liebesbeziehung ist, je ungreifbarer der Gegenstand wird, desto schwerer kommt es zu wirklicher Liebe und damit zu wirklicher Gemeinschaft. 8
Den Gedanken in die andere Richtung weiterspinnend kann man sagen: Je näher und greifbarer die Liebenden einander sind, je ausschließlicher sich ihre Liebe versteht und je deutlicher sie sich nach außen abgrenzen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Liebe besonders innig und (in einer wenig klaren, aber jedermann verständlichen Metaphorik) tief entfaltet. Dies ist der Fall in der Klein- und Kleinstfamilie. Sie ist der Ort, an dem sich der Leitwert der Familie in höchster Konzentration auf ein Minimum von Beziehungen und in höchster Exklusivität zu höchster Form und Reinheit steigert.
Aber was ist das Minimum an Beziehungen in der Liebesfamilie? Erinnern wir uns: Die Verkettung der Liebe zwischen den Geschlechtern |117| mit der Liebe zwischen den Generationen ist das konstitutive Merkmal der modernen »vollständigen« Kleinfamilie. Daraus leitet sich ein Minimum von sechs Sozialbeziehungen ab: zwischen Frau und Mann, zwischen Mutter und Kind, zwischen Vater und Kind, zwischen den Eltern als Einheit und dem Kind, zwischen Mutter und Kind als Einheit und dem Vater, zwischen Vater und Kind als Einheit und der Mutter; und letztlich zwischen allen dreien als Einheit und der Außenwelt. Kommt ein zweites Kind hinzu, erhöht sich die Zahl der Beziehungen entsprechend.
Die Liebe in ihrer Tendenz, sich als reinste und ausschließliche Beziehung zwischen nur zwei Personen zu steigern, neigt aber nun dazu, sich von einer vier- oder dreiköpfigen Zwei-Generationen-Familie zurückzuziehen und auf die noch kleinere und exklusivere Paarfamilie oder Eltern-ein-Kind-Familie zu konzentrieren und kaprizieren. Sie scheint dabei die Verkettung von Geschlechterliebe und generationsübergreifender Liebe aufzulösen. Die Kette bricht.
Machen wir uns diesen scheinbar selbstdestruktiven Steigerungsprozess der Liebe noch einmal klar: Die Liebe zum Kind kann nur entstehen, wenn Kinder geboren und gezeugt, Frau und Mann also sexuell-erotisch voneinander angezogen werden. Die Liebe zum Kind ist also auf die Liebe im Paar angewiesen.
Die Liebe im Paar ist aber auf die Liebe zwischen den Generationen angewiesen. Sie kann nicht im Paar selbst entstehen, sondern nur in einem Paar, das ihm vorangeht. Und sie kann nur weiter gegeben werden als Liebe zwischen Eltern und Kindern. Elternliebe und Paarliebe, die wieder zur Elternliebe wird, hängen untrennbar zusammen. Obwohl Sigmund Freud uns dafür die Augen geöffnet hat, erkennen wir die erotischen Elemente dieser Liebe bis heute nicht an. Selbst wenn wir annehmen, es gäbe sie nicht: Wie sonst sollten wir die Zärtlichkeit, Hingabe, Leidenschaft, latente Gewalt und Zurücknahme, kurz: alles was in die sexuelle Liebe eingeht, lernen, wenn nicht, in sublimierter Form, von den Eltern? Und wir lernen beileibe nicht in der direkten Weitergabe allein, |118| sondern auch mittelbar durch die gegenseitige Liebe der Eltern und anderer, die uns nahestehen. So erleben wir in dem, was wir als unsere eigene, individuelle Paarliebe verstehen, die Vor-Lieben und Vor-Leiden von Generationen – und tragen sie weiter.
Wenn die Liebe nun, in ihrem irrationalen Steigerungsbegehren, die Verkettung der geschlechtlichen und der generativen Dimension nicht halten, nicht beides zugleich haben kann, welche wird sie aufgeben? Die geschlechtliche Paarbeziehung spielt in der modernen, individualistischen Welt eine einzigartige Rolle. Denn der Wunsch nach beständiger harmonischer Partnerschaft formt und steigert sich erst in den Individualitäten. Gelegenheiten für Beziehungen aller Art vervielfältigen sich. Aber in der Fülle unserer Beziehungen spiegeln wir uns immer nur mit Teilen unserer selbst, als »Rollenträger«, niemals ungeteilt als Individuum. In der Vielfalt der Bindungen, der wir unsere Individualität verdanken, droht diese sich zu verlieren. Das begründet das unstillbare Bestreben, die Mannigfaltigkeit in einer einzigen Bindung aufzuheben, die
alles
in sich vereint. 9 Arzt, Therapeut, Pastor, guter Freund: Mit ihnen können wir auch Sexuell-Intimes besprechen – aber nicht sexuell-intim, sondern sachlich. Vater und Mutter mögen uns alles geben, insbesondere Geborgenheit – aber vor der letzten Intimität steht das Inzesttabu. Bleibt alleine die erotische Paarbeziehung, in
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