Weniger sind mehr
Leitwerte sind auch eine soziale Realität, und zwar eine mächtige, ja übermächtige. Ihre Übermacht rührt aus ihrer Überpersönlichkeit, sie sind überpersönlich, insofern sie kollektiv, das heißt von vielen geteilt und getragen werden. Den Alltag können wir persönlich planen und gestalten. Die Werte, die uns dabei leiten, nicht. Sie sind uns kollektiv vorgegeben, ob uns das gefällt oder nicht.
|121| In jedem Paar gibt es von Anfang an kollektive Fantasien, oder nüchterner: eine sozial geprägte Vorstellung von einem innigen, verständnisvoll-harmonischen Zusammenleben, von der Liebe also. In den Niederungen des Alltags wird diese Wertvorstellung, die ja eine kollektive ist – wer würde sie nicht teilen? –, individuell enttäuscht. Zwei Reaktionen sind denkbar: Entweder schleift das Paar sein Idealbild an der schnöden Alltagsrealität ab; damit lockert es seine Bindung an den Leitwert der Liebe. Oder es hält diesen kollektiven Wert als verbindlich hoch und löst die eigene individuelle Bindung als unzulänglich auf. Dass Trennungen und Scheidungen zunehmen, ist das Werk eines erhöhten und langlebigeren Liebesanspruchs. Bevor es sein hohes Ideal der Liebe in niedrigem Liebesalltag verschleißt, kappt manches Paar die handfeste Bindung um des Liebesideals willen.
Das mag dann, jeden für sich, in eine neue Bindung führen – und lässt dabei, durch die Erfahrung früheren Scheiterns, doch federn. Der Stabilität der zweiten (oder dritten) Bindung kommt das in der Regel zugute. Aber gerade auch, wenn es – gebranntes Kind scheut das Feuer – nicht zu einer erneuten Bindung kommt und die Getrennten jeder für sich weiterleben, tut das dem Leitwert der Liebe keinen Abbruch. Im Gegenteil: Das Paar hat seine individuelle Bindung auf dem Altar einer kollektiven Vorstellung von Harmonie und Liebe geopfert, das kollektive Liebesideal ist als Sieger über die individuelle Liebesbindung daraus hervorgegangen.
Ein Pyrrhussieg? Wahrscheinlicher ist, dass die Liebe als kollektiver Wert aus der ihr nicht gerecht gewordenen und an ihr zerbrochenen individuellen Liebe nur umso reiner hervortritt. Die brüchig gewordenen Bindungen an einen Menschen aus Fleisch und Blut verschwinden nicht aus der Welt und bleiben auch nicht als reines Negativum, sondern verwandeln sich in Bindungen an eine Idee, also in reine Wertbindungen, die von einem größeren Kollektiv geteilt werden.
Das ist keine metaphysische Spekulation. Es lässt sich empirisch |122| nachprüfen, sofern man Liebende ungetrennt, getrennt und später über die Geschichte ihrer eigenen Liebe und über die Liebe im Allgemeinen als Ideal sprechen lässt; natürlich auch über die Frage, welche Bedeutung die Liebe für ihre eigene Familie und die Familie im Allgemeinen hat und ob man sich eine Familiengründung ohne Liebe vorstellen kann. Solche Fragen, die doch an Vorgänge rühren, die uns allen vertraut und manchmal lebensentscheidend sind, werden in der Soziologie merkwürdigerweise nicht gestellt. Forschung stagniert, weil ihr Fragen und Hypothesen fehlen. So müssen wir uns mit einigen Daten behelfen, die wie Brosamen von anderen Forschungstischen fallen. 11
Die Familie wird größer
Was aber wird aus der Liebe, wenn immer weniger Kinder geboren und die Familien deshalb stetig kleiner werden?
Betrachten wir zunächst nur die Wirkung der größeren und der kleineren Zahlen. Zwei Tendenzen arbeiten hier gegeneinander. Auf der einen Seite wird, wenn statt acht oder sechs Personen nur vier oder drei zur Familie gehören, das Netzwerk der Liebesbindungen und damit die »Gesamtliebe« in der Familie kleiner. Andererseits kann gerade durch die Verringerung der Personen – genauso wie durch den Verlust von Funktionen – jede einzelne Liebesbindung exklusiver und intensiver werden. Dies wird den Beteiligten nicht bewusst, sofern die Verkleinerung der Familie durch Geburtenrückgang verursacht ist. Von einem Verlust kann man dann nur abstrakt, im Vergleich zu vorangegangenen Generationen, sprechen. Ein direktes schmerzhaftes Verlusterlebnis fehlt. Erst wenn dieses – durch Tod oder Verlassenwerden – hinzukommt, äußert sich die Intensität der Liebe und wird bewusst: in der Intensität von Trauer.
Es ist die Kombination von drei Tendenzen, die dazu führt, dass die moderne Familie mit einem Minimum an Kindern auskommt: |123| die Auslagerung und Effizienzsteigerung von Aufgaben; damit verbunden die Verringerung von Lebensrisiken und Verlängerung des
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