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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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der alles Sinnlich-Intime und Sachliche seinen Platz hat. So soll es zumindest sein. Dennoch ist auch in dieser Beziehung nicht alles sagbar und nicht alles erlaubt. Die Totalität der sozialen Welt in einer einzigen Beziehung vereinen zu wollen, darin liegt ein unheilbar romantisches Moment und eine Überforderung. Gleichwohl: Die erotische und dauerhafte Partnerschaft ist die
einzige
Sozialbeziehung, an der der Traum von der Ganzheit der sozialen Welt Halt findet. In ihm erträumt sich das Allgemeinste als das Individuellste, als die einzigartige Beziehung zwischen Liebenden.
    So sehr die Liebe nach Einzigartigkeit und Unteilbarkeit, nach Individualisierung sucht, so sehr strebt die Individualisierung |119| nach Liebe. Und doch steht sie ihr im Wege: Je mehr wir unsere Persönlichkeit als einzigartige, mit niemand sonst geteilte empfinden, desto mehr verlangen wir nach Ergänzung durch das, was wir nicht sein können. Je mehr aber auch das geliebte Gegenüber einzigartig sein soll und will, desto unmöglicher wird es, aus beiden Individuen ein einzigartig übereinstimmendes Ganzes zu machen. Georg Simmel sah deshalb in der erotischen Liebe »die reinste Tragik: Sie entzündet sich nur an der Individualität und zerbricht an der Unüberwindlichkeit der Individualität.« 10
    Da wir die Ehe heute auf erotischer Liebe bauen, die Liebe aber eine tragische Bindung ist, ist Tragik in Ehe und Familie eingeschlossen. Je mehr wir nach lebenslanger – also immer längerer – Liebe und Leidenschaft verlangen, je mehr wir unsere Ansprüche an Harmonie steigern, desto sicherer sind Scheitern und Scheidung vorprogrammiert.
    Welch eine Torheit der Moderne, Familie als dauerhafte Bindung auf ein Gefühl mit tragisch eingebautem Verfallsdatum gründen zu wollen! Alle vormodernen Gesellschaften einschließlich unserer eigenen sind mit ihren interessenmäßig arrangierten, gebotenen und verbotenen Heiraten bei der Familiengründung vernunftgemäßer verfahren. Wie kommt es zu diesem Rationalitätsverlust ausgerechnet in der Moderne, die sich so viel auf ihre Rationalität zugutehält? Dahinter steht das individualistische Verlangen nach einer Ganzheitsbeziehung, die alle anderen Beziehungen in sich aufheben und daher auch das Erotisch-Sexuelle enthalten muss. Alle anderen sozialen Beziehungen einschließlich der zwischen Eltern und Kindern enthalten diese Komponente nicht oder dürfen sie nicht enthalten. Die Liebe des Paares wird somit zum Pars pro Toto des sozialen Lebens, zur einzigen Sozialbindung, in der alle anderen enthalten sein können und sollen.
    Dies ist der Grund, weshalb die Liebe, wenn sie ihre höchste Steigerung in der ausschließenden Zweierbeziehung sucht, beim Paar beginnt und beim Paar endet und nicht etwa bei der Mutter-Kind-Bindung. Wenn das Paar aber vergeht oder auseinandergeht |120| , dann klammern sich der oder die verbleibenden Teile mit umso größerer Liebe an das gemeinsame Kind. Es ist nicht nur das, was einem vom anderen bleibt, sondern auch das, was von einem selbst bleibt.
    So vergänglich die Liebe des Paares, so unvergänglich die zwischen Eltern und Kind. Dies ist keine Bindung der freien Wahl, sondern, wenn die Zeugung erst erfolgt ist, eine Schicksalsbindung für beide Generationen. Sie ist viel früher in uns verankert als die Bindung des Paares. Sie ist unvermeidbar. Sie ist nicht abwählbar; jeder gelegentliche Versuch dazu ist gesellschaftlich geächtet und kann schwerlich ganz gelingen. Denn die Liebe zwischen Eltern und Kind hat prägenden Charakter; für das Kind ohnehin, von Anfang an, unausweichlich. Für die Eltern naturgemäß später einsetzend; aber dann doch, abhängig von Dauer, Dichte und Ausschließlichkeit der Interaktion, unter dem Protektorat des Leitwerts der Liebe und oft als dessen letzte reale Zuflucht sich steigernd.
    Wie in anderen Lebenssphären ist es auch in der Familie: Die Steigerungsmotorik, die die moderne Gesellschaft (früher hätte man gesagt: der Kapitalismus) ihnen eingegeben hat, kristallisiert ihre jeweiligen Leitwerte mit einer Zuspitzung heraus, die zur Überspitzung und Übersteigerung neigt. Dramatisch gesprochen: Liebe als Leitwert frisst ihren eigenen Nährboden, die Familie. Sie verstößt Menschen, die sich doch selbst als liebende und liebesleidende verstehen.
    Dieses Argument klingt nun seinerseits überspitzt. Familie über einen Leitwert, ein Ideal zu verstehen, verkennt zugegebenermaßen die Realität der Familie, ihr Alltagsleben. Aber

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