Weniger sind mehr
gewachsener Wurzeln.
Mit subtileren Methoden als der Umfrageforschung wäre es vielleicht möglich, genauer zu erforschen, ob die Fülle des erfahrenen und beobachteten Scheiterns in eigenen und fremden Familien nicht doch das Ideal untergräbt. Einstweilen weisen die Statistiken des Wiederverheiratens für diejenigen, die dazu aufgrund ihres Alters und ihrer Lebensumstände noch eine Chance haben, eher darauf hin, dass die Liebe ihre familienbildende Leitfunktion auch durch praktisches Scheitern hindurch erhält, ja bestärkt.
Das gilt auch für die Geburt von Kindern. Wiederverheiratete als Eltern in Stieffamilien bekommen tendenziell sogar mehr Kinder als solche in ungeschiedenen Ehen, wie die amerikanische Soziologin Elizabeth Thomson herausfand. Für verschiedene europäische Länder wies sie nach: Geschiedene mit Kindern wollen mit ihrem neuen Partner noch weitere Kinder bekommen, auf die sie sonst verzichtet hätten. Offenbar, sagt die Soziologin, |130| sei es ein Grundbedürfnis, auch mit dem neuen Partner wieder eine »richtige Familie« zu gründen. Es scheint fast so, als ob mehr Familienformen auch zu mehr Familien führen – und nicht zu weniger. 13
Wenn die Familie mehr und mehr ausschließlich auf Liebe baut und ihre traditionellen Aufgaben außer Haus gibt, wo sie zu Kristallisationspunkten eigenständiger Lebenssphären wie Schule, Erwerbsarbeit, Vereinsleben, Politik und weiterem werden, entsteht für die Familienmitglieder ein Sog, an allen diesen anderen Lebensbereichen zu partizipieren. Diese Strömung erfasst alle erwachsenen Mitglieder der Familie. Wer nicht überall dazugehören und mitmachen kann, gilt als »unvollständig«. Partizipationsrechte und -möglichkeiten in allen Lebenssphären werden zu einem Persönlichkeitswert.
Die Erfüllung dieses Wertes obliegt nicht nur dem Einzelnen. Sie wird auch zum Qualitätsmaßstab moderner Gesellschaft und zum Ziel umfassender Gesellschaftspolitik. Der siebte Familienbericht aus dem Jahr 2006 14 , den die Bundesregierung mit dem großen Aufwand einer Sachverständigenkommission in Auftrag gegeben hat, ist getragen von einem Partizipationspathos. Hintergründig und unreflektiert wird damit der Funktionsverlust der Familie zu einer Art Modernitätsnorm erhoben. Sie zieht die Norm der Partizipation – besonders, aber nicht nur zugunsten der Frauen – nach sich. Alles, was diese Norm verletzt, versetzt uns in Empörung: erzwungene Arbeitslosigkeit, ungleiche Bildungschancen, ungleiche Ansprüche von Berufstätigen und Nichtberufstätigen an die Rentenversicherung, ungleiche Karrierechancen, ungleiche Verteilung der Hausarbeit auf Mann und Frau und so weiter. Es sind solche Partizipationsforderungen und der darin steckende Gerechtigkeitsanspruch, die den Funktionsverlust der Familie vorantreiben und gleichsam zur offiziellen Politik erheben, obwohl dieselbe Politik nach wie vor die Familie als Keimzelle der Gesellschaft preist und in ihrem Familienbericht zustimmend dokumentiert, wie reichhaltig und vielgestaltig die |131| Aufgaben sind, die die Familie tatsächlich (noch) erledigt – ihrem fortschreitenden Funktionsverlust zum Trotz.
Dem Risiko, dass die Familie sich durch den Rückzug auf eine einzige Kernfunktion destabilisiert, wirken zwei Prozesse entgegen. Den einen kennzeichnet die fortdauernde, sich gegenseitig unterstützende Zusammenarbeit zwischen Familie und anderen Lebenssphären. Man kann auch von einer Reservefunktion der Familie sprechen. Der andere lässt sich als Refamilialisierung von Funktionen (Aufgaben) bezeichnen.
Auch wenn ihr (fast) alle Aufgaben verloren zu gehen scheinen, so bleibt der Familie doch etwas von allen: Sie produziert, sie konsumiert, sie kocht, wäscht und putzt, sie erzieht, sie bildet, sie heilt, sie pflegt. So hilft sie den Unternehmen, den Gärtnereien, den Reinigungsbetrieben, den Wäschereien, den Restaurants, den Schulen und Universitäten, den Krankenhäusern, Pflegestationen, Versicherungen, ja, sie führt oft erst zu ihnen hin: Sportvereinen, politischen Parteien, Religionsgemeinschaften werden die meisten Mitglieder nach wie vor durch die Familie zugeführt; man wird quasi über die Familie in sie hineingeboren. Ohne die Vorleistungen und Zusatzleistungen der Familien wären die Institutionen, die die ursprünglich familialen Aufgaben übernommen haben, hoffnungslos überfordert und kaum effizient.
So wie die Familie den Kindergärten, Krankenhäusern, Betrieben hilft, so helfen diese
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