Weniger sind mehr
gescheiterter Normalfamilien in Beziehung gesetzt werden müsste.
Entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis als frei und verstandesmäßig konstituiert, scheinen die modern-europäischen Gesellschaften den biologischen Reproduktionsmechanismen eine besondere, ja steigende Bedeutung zuzumessen. Die Genforschung an sich ebenso wie ihre Anwendung in Vaterschafts-, Gesundheits- und anderen Tests weisen in diese Richtung. Unterstrichen wird dies aber auch durch den enormen gesetzlichen und sozialpolitischen Verfahrens- und Kontrollapparat, mit dem Adoptionen hierzulande staatlich eingebunden und eher unterbunden als gefördert werden.
Das Geschehen rund um Adoption und Fortpflanzungsmedizin spielt sich meist unbemerkt in den abgedunkelten Zonen von Intimität und Scham ab, geschützt durch ärztliche, behördliche, familiale Schweigepflichten. Gelegentlich wird es grell ans Licht gezogen. Meist geht es dabei um Misserfolge, Missbrauch, Einzelschicksale. Die Bedeutung für die Selbsterhaltung von Familien in Zeiten des Geburtenrückgangs wird dabei weder für die Gegenwart noch für die Zukunft erkannt.
Selbsterhalt durch Homosexuellenfamilien
Homosexuelle, ob männlich oder weiblich, können bisher mit gleichgeschlechtlichen Partnern keine Ehe eingehen und auch keine Kinder bekommen. Tatsächlich aber sind nicht wenige von ihnen verheiratet (gewesen) und haben leibliche Kinder – dies allerdings |148| als normal-heterosexuelle, zugleich verborgen-bisexuelle Partner und Eltern.
So löst sich ein Widerspruch auf: durch Erklärung. Er verliert aber auch in der sozialen Wirklichkeit an Bedeutung. Denn diese ändert sich: Was zunächst verboten, dann verpönt war, wird zusehends anerkannt und als normal betrachtet. Aber Normalisierung hat ihre eigene zwingende Logik: Sozio-Logik, dialektische Logik. Aus Verbot wird Gebot. Würde aus verbotener Liebe nur ungebundene Sexualität, bliebe ihre Anerkennung auf halbem Wege stecken. Der ganze Weg bedeutet: Aus verbotener Liebe wird gebotene Liebe.
Und umgekehrt: Aus Gebot wird Verbot. War es bisher geboten, verbotene Liebe zu verheimlichen, so ist es heute geächtet, aus gebotener Liebe einen Hehl zu machen. Zwar steht es Homosexuellen wie Heterosexuellen nach wie vor frei, eine Liebe im Verborgenen zu lassen. Als neuerdings Befreite empfinden sie allerdings auch eine dreifache moralische Verpflichtung, Liebe zu bekennen: gegenüber dem Wert der Freiheit, denn die Befreiung musste ja für etwas gut sein, gegenüber der Solidargemeinschaft der Homosexuellen und gegenüber dem Wert der Liebe selbst.
Denn unter deren Leitstrahl sind sie nun geraten. Er ist zugleich ein Bannstrahl. Was für Heterosexuelle bereits galt, wird nun auch zur neuen Normalität der Homosexuellen: Sie gibt Lüste und Leidenschaften frei – und bannt sie unter den Leitwert der Liebe. Die Liebe erlaubt Leidenschaft – und soll vor ihr schützen. Weil sie davor schützt, erlaubt sie sie. Das – nicht notwendig ausgesprochene, aber einklagbare – Liebesbekenntnis ist der Preis für die soziale Befreiung der Lüste.
Jede Befreiung weckt auch Angst vor der Freiheit. Homosexuelle spüren das und bekommen es zu spüren. Es ist die Angst vor dem, was die Gesellschaft in der – vorwiegend männlichen – Homosexualität sah und wähnte, als sie noch Untergrundsexualität, aber bereits auf dem Weg in die Gesellschaft war: Zügellosigkeit, Bindungslosigkeit, Promiskuität, Pädophilie, Gewalt.
|149| Wo Verbote diese Angst nicht mehr dämpfen und die ostentativ freie Liebe – symbolisiert in den Christopher-Street-Paraden – sie eher schürt, ist Bindungsliebe gefragt. Konsequent ist deshalb die Forderung von Homosexuellen, als Homosexuelle Familien gründen zu können. Konsequent ist sie auch als Abschluss eines Prozesses, in dem eine Minderheit in die Normalität strebt. (Dass diese Normalität, aller Liberalität zum Trotz, vor der homosexuellen Minderheit doch immer zurückweicht und letztlich unerreichbar bleibt, verleiht soziologischen Vorgängen wie diesen eine ironisch-tragische Tönung.) Konsequent und normal ist bei alledem auch, dass allgemeine Werte wie Gleichberechtigung und Familie in Anspruch genommen werden, um besondere Gruppenvorteile zu erlangen; Homosexuelle präsentieren sich damit als – fast – normale Interessengruppe. Konsequent ist die Forderung nach der homosexuellen Familie schließlich, weil Homosexuellen nun, nach gesellschaftlicher Anerkennung mit implizitem
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