Weniger sind mehr
und sich auf Seitenzweige verlagern, ist verständlich, wenn auch zu wenig beachtet. Familiale Erhaltungsbestrebungen (Reparatur- und Regenerationsmechanismen) gehen aber über geborene Herkunftsbindungen weit hinaus. Sie bedienen sich der Kooptation, also der Zuwahl. Familien verfügen dabei über viele Arten und Möglichkeiten. Die Wahlen können formal-rituell oder informal sein. Die daraus sich ergebenden Bindungen können sich auf einen bestimmten Zweck, etwa Hausarbeit und Pflege, beschränken oder unbestimmt-freundschaftlich sein. Sie können locker bleiben oder sich verfestigen. Sie dauern oft nur kurze Zeit, manchmal aber sogar länger als die individuellen Leben. Sie kommen und gehen mit der sprichwörtlichen Flüchtigkeit moderner Beziehungen, oder sie verwandeln sich, durch Beständigkeit und Wichtigkeit, unversehens in Herkunftsbindungen eigener Art. Nicht selten sind sie unverbrüchlicher als die Bindungen, in die man hineingeboren wird.
Im Vergleich zu biologisch geborenen, kann man von sozial geborenen oder gewachsenen Herkunftsbindungen sprechen. Die |141| ersten binden von Beginn an schicksalhaft, die zweiten durch individuelle Entscheidungen, die allerdings meist nicht auf einen Schlag erfolgen, sondern sich als unmerkliche Folge früherer Entscheidungen und laufender Umstände ergeben. Die ersten erfassen die Menschen unbewusst; die zweiten werden bewusst herbeigeführt. Die ersten sind den Individuen vorbestimmt; bei den zweiten bestimmen sie mit. Bei den ersten sind die Menschen Knechte; bei den zweiten fühlen sie sich frei. Sobald wir uns frei fühlen, versuchen wir auch unsere geborenen Bindungen durch eigene Entscheidungsmacht zu lenken, ja zu ändern –
corriger
la fortune
; aber zugleich gewinnen auch die frei gewählten Entscheidungen eine Art Schicksals- oder Herkunftsmacht über uns.
Unser Thema, daran muss erinnert werden, ist an dieser Stelle allerdings nicht der Mensch in seiner Gebundenheit und Wahlfreiheit, sondern die Familie. Wie nützt sie die Mechanismen der freien Wahl, um sich auch dann zu erhalten, wenn sie als Kernfamilie immer kleiner wird und der Nachwuchs ganz ausbleibt?
Zuwahl durch Patchwork (wider Willen)
Bei einer Scheidung kann man davon ausgehen, dass die Eheleute die von ihnen selbst gegründete Familie auflösen wollen. Auch wenn der Wille zunächst nur auf einer Seite besteht, die andere muss, nach Lage des Rechts und zeitgenössischer moralischer Vorstellungen, früher oder später einwilligen. Die Familie allerdings, die mehr ist als der Wille der beiden Gründer, setzt sich zur Wehr. Sie bedient sich der Kinder, die beide Eltern behalten wollen, auch wenn die Erfüllung dieses Wunsches auf schmerzhafte Besuchskontakte reduziert wird. Die Familie bedient sich ferner der Gerichte, die die Bindungsbedürfnisse der Kinder wahren oder die Erhaltung familialer Funktionen durch ein gemeinsames Sorgerecht stärken.
Die Familie bedient sich schließlich auch kultureller Hintergrundströmungen |142| , die im Wandel begriffen sind. So verwandelt sich die Regel: »Wenn schon Trennung, dann muss sie klar und strikt sein!« in die Regel: »Kooperation im Konflikt ist besser und muss zugunsten der Kinder den Geschiedenen zugemutet werden.« Eine solche Regel würde nicht auf Verständnis stoßen, stünden dahinter nicht kulturelle Erfahrungen und Erwartungen einer moderaten Gefühlslage. Erst auf dieser Basis kann den Beteiligten ein Management der Emotionen angesonnen werden, das Liebe und Hass in ihrer zerstörerischen Wucht herabstimmen und in Freundschaft und rationale Zweckbündnisse überführen soll.
Sofern dies den getrennten und eventuell erneut verheirateten Erwachsenen gelingt, können Kinder aus zwei »befreundeten« und/oder »kooperierenden« Familien für sich selbst gleichsam eine neue Familie zusammensetzen. Haben sie aus beiden Teilfamilien noch Geschwister, so ergibt sich eine typische Patchwork-Situation: mit Halb- und Stiefgeschwistern, mit Vater und Stiefvater, mit Mutter und Stiefmutter. Das bedeutet erweiterte Verwandtschaft. Wie andere Verwandtschaft ist sie von den Kindern zwar nicht gewählt. Sie verheißt aber, in diesem größeren Rahmen, gemäß individuellen Vorlieben oder Abneigungen, auch mehr Möglichkeiten zu Bindungen nach eigener Wahl. So wird denn auch die große Patchwork-Familie, zudem versehen mit dem Schmelz des Neuen, in Talkshows als bereichernd und erheiternd dargestellt.
Man muss nicht die Distanz des Wissenschaftlers
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