Weniger sind mehr
sie, anders als für die Familie, keine rechtliche Institutionalisierung gibt (und wohl auch nie geben wird). Freundschaft ist der historisch jüngere Typus sozialer Bindung. Aus dem diffusen Gemenge aller Bindungen hat sie sich später herausdifferenziert.
Andererseits sind Freundschaft und Familie sich ähnlich in der Vertrautheit, Verlässlichkeit und Vielstrahligkeit der Bindungen. |152| Sie sind nicht auf einen einzelnen Zweck (wenn überhaupt) ausgerichtet und gerade deshalb für viele Zwecke einsetzbar, in Notlagen und im Überschwang des Glücks. Die Intimität von Freundschaft und Familie bildet Schutzräume für verletzliche Gefühle und Mitteilungen, die ohne diese Sicherheit Beteiligte und Außenstehende in Gefahr bringen würden.
Wegen dieser Ähnlichkeit sind die Grenzen zwischen Familie und Freundschaft durchlässig. Familienmitglieder können Freunde werden. Wir hören es allerdings mit Stirnrunzeln, leisem Zweifel: »Meine Mutter ist meine beste Freundin« oder, nach einer Trennung: »Wir sind Freunde geblieben.«
Andererseits können Freunde zur Familie werden. Ellen »gehört zur Familie«. Auch bei dieser Formulierung mögen Vorbehalte auftauchen, ein innerstes leises Sträuben. Es rührt daher, dass wir die feinen Differenzen zwischen Familie und Freundschaft idealtypisch verinnerlicht haben. Allerdings, die Familie als die ältere, umfassendere und robustere Lebenssphäre fragt im Notfall mangels eigenen Nachwuchses oder wegen funktionaler Schwachstellen nicht nach den feinen Unterschieden. Zur Selbsterhaltung und -stärkung verleibt sie sich Freundschaft ein, und manchmal zerstört sie sie dabei.
Diffusion der Lebenssphären kann allerdings auch zur Zerstörung der Familie führen: Wie viele alleinstehende Frauen werden von Ehefrauen als Bedrohung empfunden! Für Ehemänner und Familienfreunde gilt Entsprechendes, wenn auch, wie es scheint, in geringerem Maße. Und tatsächlich können derartige Grenzüberschreitungen zwischen Familie und Freundschaft eine bestehende Familie sprengen. Sieht man auf die Folgen, so sind sie meistens für alle Beteiligten schmerzlich und für Beobachter moralisch empörend. Trotzdem, für die Familie selbst ist der Schaden am geringsten. Er führt, kühl gesprochen, oft nur zum Austausch einer Person. Die Familie selbst aber bleibt, wenn auch mit Wunden und Narben, manchmal sogar bestärkt, bestehen.
|153| Selbsterhalt durch die Zweckfamilie
Eine andere Wegsuche führt über die Zweckfamilie. So kann man diejenigen Familien nennen, die für bestimmte Aufgaben Personen hinzuwählen, ja auf legalen und illegalen Arbeitsmärkten einkaufen. Man zögert, hier von erweiterter Familie zu sprechen. Putzhilfen, Haushälterinnen, Nachhilfelehrer, Au-pair-Mädchen, Kinderfrauen, Alten- und KrankenpflegerInnen sind ja zunächst alles andere als Familienmitglieder. Die Grenzen zwischen Familie und ihren bezahlten Helfern und Arbeitskräften werden von allen Beteiligten sehr deutlich gezogen und vor allem bei Grenzverletzungen, etwa unangebrachten Vertraulichkeiten, sehr fein empfunden. Gleichwohl gibt es Übergänge und Einfallstore, durch die es die von Familien bezahlten Arbeitskräfte aus den kühl berechneten Marktbeziehungen heraus und in die Wärme des familialen, nicht zweckgebundenen Austauschs hineinzieht.
Eine 70-jährige Unternehmerin, Witwe, kinderlos, war nach ihrer Pensionierung zufällig durch gemeinsame Bekannte zur Vermögens- und steuerlichen Beraterin einer Schauspielerfamilie geworden. Sie machte sich als Ordnerin des Chaos bald unentbehrlich. Nach einiger Zeit wurde sie zum unverzichtbaren Familienmitglied ernannt. Einer jungen polnischen Frau, von einem höheren Beamten zunächst illegal für die Pflege seines bettlägerigen Vaters angeheuert, erging es ähnlich.
Es ist die Intimität und relative Abgeschlossenheit des familialen Raumes, die hinzugezogene Zweckbeziehungen unwillkürlich unter einen Familialisierungsdruck setzt. Wie weit die Umwandlung von Marktbeziehungen in Familienbindungen in modernen Gesellschaften verbreitet ist, wissen wir nicht. Diese Transformation ist, im Gegensatz zum umgekehrten Prozess, bisher nicht Gegenstand der Sozialforschung. Auch Forscher folgen mit ihren Fragen gängigen Vorurteilen. Zu denen gehört es, die Familie als Opfer zu sehen, die von anderen Lebenssphären ausgesaugt wird. Die Frage nach der aktiven Selbstbehauptung der Familie, nach |154| ihren Eingriffen und Übergriffen in andere Funktionsbereiche
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