Weniger sind mehr
einnehmen, um angesichts solcher Selbstdarstellungen nicht auch einen Hauch soziologischer Skepsis zu verspüren. Intuitiv weiß jeder: Mit der Vergrößerung und Wählbarkeit von Bindungen geht ihre Einzigartigkeit und Unverbrüchlichkeit verloren – und damit eine besondere Qualität. Ein Vater ist eben doch mehr als zwei Väter – im Guten wie allerdings auch im Schlechten. (Man spricht von der »Enge« einer Beziehung – das zeigt den Doppelcharakter, der dahinterliegt.)
Die Familie als System fragt allerdings nicht nach gut und |143| schlecht. Zwar wohnt ihr eine Tendenz zur »Qualitätssteigerung« als Verengung und Intensivierung sozialer Bindungen inne. Den Risiken und Folgen dieser Steigerung – Verlust von Mitgliedern und Nachfolgern durch Scheidung und Geburtenrückgang – steuert sie allerdings gegen. Droht sie durch Trennung in kleinste Teile zu zerfallen, die – auf sich gestellt – ihre familialen Funktionen nicht mehr erfüllen können und, wie Alleinerziehende mit Kindern, oft sichtbar verarmen, dann setzen Mechanismen der Selbststabilisierung ein. Der Wertkonflikt zwischen Qualität und Stabilität oder: zwischen Liebesideal und Erhalt der Familie wird von den Familienmitgliedern als ihr individueller Konflikt empfunden und übersetzt sich für sie in die Frage: Was soll ich tun?
Die Patchwork-Familie bietet ein Lösungsmuster an. Sie ist zwar darauf angewiesen, dass die Einzelnen kooperieren, besteht und funktioniert aber nicht durch sie allein. Dies ist einer der Wege zur Selbststabilisierung von Familie, die einen vagen Konsens der Beteiligten und ihres sozialen Umfelds voraussetzen. Der Ausgang dieser Wege ist ungewiss. Wir probieren sie aus, indem wir sie begehen. Wie andere Versuchs-Irrtums-Prozesse auch können sie sich zu sozialen Institutionen verfestigen oder schnell wieder verschwinden.
Das wissenschaftlich geschaffene Kind
Nach heute gängigem Vorverständnis ist es die gewonnene Wahlfreiheit der Individuen, die für den Fall der Geburtenrate verantwortlich ist. Wohlstand, Bildung, Gleichberechtigung, Pille machen es möglich. Was aus dieser Sicht übersehen wird: Hinter den Freiheiten stehen steigende Ansprüche sozialer Systeme. Anders gesagt: Freiheiten verwandeln sich in soziomoralische Zwänge von guter Bildung, eigenem Einkommen, selbst gewähltem Beruf und verantwortlicher, harmonischer Partnerschaft.
Die Zwänge laufen zusammen zu der unabweisbaren Erwartung |144| , dies alles unter einem Hut zu vereinen und einen eigenen Ansehensstatus zu gewinnen – und verwandeln sich unversehens von sozialen in biologische Zwänge (gar von sozialen Schwierigkeiten in biologische Unmöglichkeiten). Die Zeugungsfähigkeit junger Männer ist nach einschlägigen medizinischen Untersuchungen geringer als in früheren Generationen. 17 Für Frauen nimmt die Fruchtbarkeit nach dem 30. Lebensjahr rapide ab. Wie weit diese biologischen Tatbestände bereits gesellschaftlich durchformt sind, lässt sich schwer festmachen. Auf jeden Fall wirken sie in Verbindung mit gesellschaftlichen Tendenzen zu später Heirat und aufgeschobener Elternschaft als Geburtenunterbindungsgründe – und zwar gegen den Kinderwunsch der Betroffenen.
Geschätzte 15 bis 20 Prozent der Paare, die dem Anschein nach die Freiheit haben, Kinder zu bekommen, haben diesen Freiraum tatsächlich nicht. Sie selbst erfahren dies oft erst spät und schmerzlich. 18 In immer mehr Fällen beginnt dann ein verzweifelter Versuchs-Irrtums-Prozess, die sozial-biologischen Zwänge doch noch zu durchbrechen und die (verloren gegangene oder nie gehabte) Freiheit zum Kind zu erkämpfen. Der entscheidende Verbündete in diesem Kampf ist die moderne Reproduktionsmedizin, die, beginnend mit Hormongaben über die In-vitro-Fertilisation bis hin zur umstrittenen Embryo-Adoption ein immer größeres Repertoire entfaltet, 19 um mit wissenschaftlicher Kunst Kinder zur Welt zu bringen, die es ohne sie nicht gäbe. Immerhin sind in Deutschland laut Statistik in den vergangenen Jahren bereits 85 000 Kinder durch künstliche Befruchtung entstanden. 20 Wie groß die weiteren wissenschaftlichen Möglichkeiten sind, kann man nur ahnen. Sie hinken in jedem Fall den reproduktiven Bedürfnissen der Familien hinterher. Nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an faktischer Freiheit begrenzt hier die Geburtenzahl.
Die Anstrengungen, Kosten und Enttäuschungen, die die betroffenen Paare auf sich nehmen, um gegen ein Amalgam von sozialen und naturhaften
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