Weniger sind mehr
missionarisch-militärisch und mittels Herrschaft oktroyiert, sondern können aus freien Stücken gewählt und übernommen werden. Der Kulturtransfer selbst ist gleichsam befreit worden. Andererseits lebt die Ambivalenz auch in einem »freien« Austausch der Kulturen wieder auf: als ständiger Konflikt zwischen der tiefen Präferenz für die eigenen Lebensformen und der Attraktivität der anderen.
Das Gesetz der »Präferenz für das Eigene« heißt nicht, dass Kulturen den Wert anderer Kulturen nicht zu erkennen vermögen. Sie können sogar anderen Kulturen den Vorzug geben. Gegenüber der vorgängigen, unbewussten, gefühlsmäßig geteilten Prägung durch das Eigene kann dies allerdings immer nur ein zweiter, rationaler, selbstbestimmender Schritt sein. Individuen können ihn |175| voll und ganz gehen: durch Auswanderung oder durch Annahme einer fremdartigen Lebensform, womit sie sich allerdings zum Außenseiter machen. Kulturen als kollektiv verfestigte und von vielen zugleich und wechselseitig getragene Gebilde können als Ganze den reflektierten Schritt aus sich selbst heraus allerdings nicht machen. Sie können nur bestimmten Teilerscheinungen einer anderen Kultur den Vorzug geben. So fühlen sich die nichtokzidentalen Kulturen von der westlichen Waffentechnik, Warenwelt, Medizin, Internet- und Handytechnologie angezogen und ziehen diese an. Die Anziehung umfasst aber nie die Kultur als Ganzes – das verhindert die Präferenz für das Eigene –, sondern immer deren Teilstücke, die von der eigenen, ursprünglichen Kultur in Dienst gestellt werden.
Das Fremde wird uminterpretiert, bis es in die eigenen Lebensformen passt und von ihnen einen neuen Sinn bekommt. Die Kultur- und Entwicklungssoziologie hat das an vielen Fallstudien beschrieben. Claude Lévi-Strauss, der Nestor der Anthropologie, verwies darauf, »dass die Japaner, die man im Abendland zunächst als Nachahmer und Kopisten gesehen hatte, sich dem Okzident beharrlich angleichen wollten – nicht, um sich mit ihm zu identifizieren, sondern um sich gegen ihn zu verteidigen, damit die traditionellen Werte unversehrt blieben. Solche Kontakte, solche triumphal überbotenen Entlehnungen kannte Japan im hohen Mittelalter in seinen Beziehungen zu China. Dieselbe Taktik hat es im 19. und 20. Jahrhundert in seinen Beziehungen zu Europa und den Vereinigten Staaten wieder angewandt. Wir alle, die wir Identitätskrisen durchleben, können unseren Blick auf Japan richten und es um Unterrichtsstunden bitten.« 3
Die heute nachholende ostasiatische Industrialisierung in den Tigerstaaten wie Singapur und Malaysia weist streckenweise, eher noch selbstbewusster, eine ähnliche kulturkämpferische Grundstruktur auf. Die Integration westlicher, kapitalistischer, wissenschaftlicher und technologischer Praktiken in die asiatischen Kulturen soll, aus dortiger Sicht, deren Wertüberlegenheit noch |176| bestärken. Die fremden Kulturelemente erhalten den Charakter von Instrumenten, die den grundlegenden Vorzug der eigenen, aufnehmenden Kultur steigern sollen. Ja, das Argument wird zugespitzt zu der These, dass die »asiatischen Werte« – Gemeinwohlorientierung, Autoritätsgläubigkeit, Familialismus, Fleiß und Ähnliches – sich auch als kultureller Untergrund wirtschaftlichen Wachstums den westlichen Werten als überlegen zeigen würden.
Anziehung und Abstoßung zwischen den Kulturen liegen in ein und demselben Vorgang! Sie können deshalb mit Fug und Recht als Kooperation, aber auch als Kampf der Kulturen interpretiert werden. Der Ausgang des Wettstreits ist offen. Der Westen kann zwar stolz darauf sein, dass zentrale Elemente seiner Kultur von anderen übernommen werden. Zeugt das nicht, ungeachtet aller Wortklaubereien, von Überlegenheit, ja Dominanz des Westens? Von der anderen Seite werden die Dinge so allerdings nicht gesehen. Es gibt in Asien, genauso wie in Europa, die stillschweigende, aber umso tiefgründigere elementare »Präferenz für das Eigene«. Sie hat gegenwärtig eine durchaus politisch-expressive, wenn auch nicht aggressive Artikulation gefunden. Sollte die westliche Kultur, wenn sie sich über die ganze Welt auszubreiten meint, in Wirklichkeit in eine Fülle von Krakenarmen anderer Kulturen laufen, die sie an Ort und Stelle in die dortigen Lebensformen einpassen, sodass das Westliche nachher nicht mehr es selbst, sondern Teil der aufnehmenden östlichen Kulturen geworden ist?
Das optimistische Selbstbewusstsein der nichtwestlichen Kulturen
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