Weniger sind mehr
Migrationssoziologie.
Wie subtil, manchmal auch die Realitäten überrumpelnd, die Nachzugsmechanismen funktionieren, zeigt der französische Soziologe Abdelmalek Sayad anhand von empirischen Untersuchungen: Nordafrikaner, oft nur mühsam und nach europäischen Maßstäben gar nicht erfolgreich Fuß gefasst habend, stellen in Briefen nach Hause ihre prekäre Situation beschönt und attraktiv dar, um nicht als Versager zu erscheinen. 4 Damit ziehen sie unbeabsichtigt junge Leute aus ihrer Verwandtschaft und Nachbarschaft an, deren Enttäuschungen vorprogrammiert sind.
Zur Realität des Westens gehört, dass er für viele Menschen außerhalb seiner selbst ein Wunschbild ist. Was Amerika schon immer war und bleibt – der Traum von Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten –, dem fügt Europa noch einiges hinzu: die Sehnsucht nach Sicherheit vor Gewalt und ärgster Not. Und dieser Traum wird noch durch diejenigen genährt, für die er sich nicht erfüllt hat! Sie scheuen sich, ihre Enttäuschung nach Hause weiterzugeben, unverrichteter Dinge zurückzukehren oder zu klagen. Eher berichten sie nach Hause, wie erfolgreich sie sind und wie fantastisch der Westen ist. So wird der Westen auch von denen verklärt, die es besser wissen müssten!
Akkulturation auf Gegenseitigkeit
Gesellschaften wie die europäischen, die gewohnt sind, sich durch Geburten und nicht durch Einwanderung zu regenerieren, haben eine recht einfache Vorstellung von der eigenen Kultur und vom Prozess der Akkulturation. Die eigene Kultur ist ihnen etwas selbstverständlich Vorhandenes und relativ Homogenes, das sich durch die Macht der Mehrheit und die Präferenz fürs Eigene in der Zeit erhält.
Die aufnehmende Kultur versteht Akkulturation als Unterwerfung |182| und Anpassung, nicht als Austausch zwischen Gleichen. Akkulturation mag zwar länger dauern, wird aber doch als kontinuierlicher Prozess der Eingliederung der einen Kultur in eine andere gesehen und nicht als gegenseitiges Geben und Nehmen. Die Zuwanderer sollen entweder gar keine eigene Kultur mitbringen und nur als Menschen, gleichsam kulturell unbeschriebene Blätter, auftreten oder ihre kulturelle Vorprägung schnell durch eine Neuprägung ersetzen.
Diese Vorstellung wird aber durch die Vorgänge selbst Lügen gestraft. Denn je mehr die Zahl der Einwanderer mit gleicher Herkunftskultur wächst, desto mehr bilden sie eine eigene »große Zahl« mit »Präferenz fürs Eigene« aus. Minderheit zwar immer noch, aber doch von Gewicht. Nachfolgende Einwanderer finden nun immer mehr Menschen vor, die in der gleichen sozialen Lage sind wie sie selbst: zwischen den Kulturen. Mit Seinesgleichen kommuniziert es sich leichter. Durch das Zusammenwohnen von türkischen Einwohnern in Berlin-Kreuzberg oder in Duisburg-Marxloh entsteht erst die »kritische Masse«, die nötig ist, damit eine türkische Herkunftskultur sich in der Fremde einrichten kann: in Gestalt von Lebensmittelläden und Hochzeitsgeschäften, Teestuben und Fußballvereinen, Schreib-, Telefon- und Reisebüros, Picknickplätzen in öffentlichen Parks und Moscheen.
Für die einheimischen Deutschen hat das geballte Auftreten türkischer Kultur etwas Befremdliches, ja Beängstigendes. Es erscheint uns als verweigerte Akkulturation. Diejenigen, die entweder als Gastarbeiter wieder weggehen oder als Einwanderer sich zu Mitträgern deutscher Kultur machen sollten, bleiben zwar, aber als Träger einer fremden Kultur! Der Vorgang selbst ist faszinierend-exotisch. Wir können ihn mit Toleranz, weltläufiger Gelassenheit oder jugendlicher Begeisterung für das Neue begleiten. Nichtsdestoweniger bleibt er eine Kränkung für die einheimische Kultur. Sie kann sich in ihrem gewohnten Bild nicht ungestört behaupten. Und sie ist offenbar nicht einnehmend und stark genug, um Elemente einer anderen Kultur zu assimilieren. |183| Der Ärger der gekränkten Mehrheit macht sich in empörten und abfälligen Bezeichnungen wie »Parallelgesellschaft« und »Ghettoisierung« Luft.
Wir können aus dem Vorgang, ihn genauer betrachtend, aber auch etwas anderes lernen. Erstens, die gefürchteten »Parallelgesellschaften« sind sehr viel stärker in die deutsche Kultur eingebunden, als es auf den ersten Blick scheint. Denn die Geschäftsleute, Vereinsvorsitzenden, religiösen Sprecher müssen mit deutschen Kunden, Behörden, Lehrern, Sozialarbeitern handeln und verhandeln – gerade auch für diejenigen, die sich als nachziehende Verwandte, Heiratswillige,
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